Jedes fünfte Kind in Berlin ist zu dick. Von der erwachsenen Bevölkerung sind in ganz Deutschland etwa 30 Prozent übergewichtig. So lauten die alarmierenden Meldungen der letzten Wochen. Im Freibad kann man sich von der Entwicklung auch persönlich überzeugen. Unter den Kindern sind es übrigens oft die Dunkelhäutigen, die noch eine einigermaßen gute Figur machen. Da ist die Rede von mangelnder Zuwendung oder fehlender Disziplin, innerer Leere, die zugestopft werden soll, und von der unheilvollen Wirkung der Werbung. Doch wie Übergewicht in 99 Prozent der Fälle durch übermäßige Kalorienzufuhr verursacht wird, so hat das übermäßige Zugreifen meist einen ganz einfachen Grund: Das Angebot ist zu groß. Mit zunehmendem Technisierungsgrad steigt das Körpergewicht beinahe proportional an. Wenn es einen Beweis gibt, daß die Amerikaner uns überlegen sind, dann sind es die vielen Fettwänste. Die Frage ist nicht, wieso die Leute dick werden, sondern wie es möglich ist, den allgegenwärtigen Verlockungen überhaupt zu entgehen. Tiere vermögen das nicht. Die kann man planmäßig „mästen“. Das gilt nicht nur für Haus- und Nutztiere, bei denen man ein Frustfressen unterstellen könnte, sondern zum Beispiel auch für Ratten und Mäuse. Wo es viel zu fressen gibt, werden sie fett; wo Mangel herrscht, bleiben sie mager. Sieht man sich Fotos aus den Nachkriegsjahren an, so scheint das für Menschen auch zu gelten. Durchgehend schlank sehen sie nur dort aus, wo die Kalorienzufuhr versorgungstechnisch streng rationiert ist. Hierzulande gibt es spätestens seit den 1960er Jahren für die Mehrheit der Bevölkerung keine Nahrungsprobleme mehr. Man hätte also schon damals für wenig Geld kräftig zulegen können. Warum passiert es in diesem Umfang erst jetzt? Die Art der Nahrung spielt hier eine entscheidende Rolle. Zwar werden immer noch fette Soßen, Sahnetorten und ähnliche Glanzpunkte der deutschen Küche als Gefahrenquelle hervorgehoben, aber in Wirklichkeit gibt es etwas, das diese Kalorienbomben in ihrer Wirksamkeit weit in den Schatten stellt – die sogenannten Snacks. Von einem Kasseler-Gericht ist man für einige Stunden so satt, daß schon der Gedanke an Essen Übelkeit hervorruft – abgesehen von den krankhaft Freßsüchtigen. Die tausendfältigen Riegel und Häppchen, Sandwiches und Mini-Salamis hingegen machen nicht satt, sollen gar nicht satt machen, damit die Kaufhandlung möglichst oft wiederholt wird. Das Aufstellen solcher Kalorienfallen setzt aber bestimmte technische Bedingungen voraus. Erst wo der Teig vorgebacken bereitgehalten wird, können Bäcker ihr Spinnennetz rund um die Uhr aushängen. Die „Migrantenkinder“ haben dem fatalen Angebot gegenüber einen gewissen Vorteil, weil ihre Mütter teilweise noch richtig gekochte Mahlzeiten auf den Tisch bringen – noch.