Der Streit um die Opferzahlen britischer und US-amerikanischer Luftangriffe auf die Stadt Dresden am 13. Februar 1945 löst seit Jahrzehnten Meinungsverschiedenheiten, ja, teils erbitterten Streit aus. Es hat sich der durchaus berechtigte Eindruck gebildet, daß die von Deutschen verursachten Totenzahlen hemmungslos erhöht werden (mit der Folge, daß den Verbreitern dann immer wieder peinliche Pannen nachgewiesen werden), und daß umgekehrt die Zahl der deutschen Opfer, seien es die Flüchtlinge und Vertriebenen, seien es die Kriegsgefangenen und Luftkriegstoten, immer heruntermanipuliert wird. Da ist es kein Wunder, wenn auch über die Toten von Dresden gestritten wird. Die veröffentlichten Zahlen schwanken. Als die deutschen Medien im Februar 1945 zum ersten Mal über die Angriffe berichteten, nannten sie keinerlei Zahlen. Im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht vom Februar 1945 werden für den internen Gebrauch „circa 60.000 Tote“ genannt. Die Neue Zürcher Zeitung vermutete am 17. Februar 1945 in einem Bericht ihres Berliner Korrespondenten 50.000 bis 70.000 Tote, während am selben Tag Svenska Morgonbladet etwa 100.000 Tote meldete. Im Oktober 1954 veröffentlicht die Wehrwissenschaftliche Rundschau Nr. 10/53 einen Beitrag vom Generalmajor der Feuerschutzpolizei a. D. Hans Rumpf, der 60.000 Tote schätzt, was er in seinem Buch „Das war der Bombenkrieg“, dem ersten Versuch von deutscher Seite, den Luftkrieg gegen Deutschland darzustellen, wiederholt. 1955 erklärt der stellvertretende Vorsitzende des DDR-Ministerrates, Hans Loch, es seien „mehr als 300.000 Dresdner“ bei den Luftangriffen getötet worden. Dessen ungeachtet nennt das „Referat für Fremdenverkehr beim Rat der Stadt Dresden“ in den Jahren 1960/61 „35.000 identifizierte Leichen“. 1961 rückt Generalmajor Rumpf von der von ihm bisher genannten Zahl ab und hält 250.000 Tote für möglich. Die Brockhaus-Enzyklopädie 17. Auflage nennt Anfang der sechziger Jahre 60.000 Tote. 1963/64 zitiert David Irving in seinen Büchern „Und Deutschlands Städte starben nicht“ und „Der Untergang Dresdens“ zustimmend den Leiter der Abteilung Tote in der Dresdner Vermißtenzentrale, Hanns Voigt, der von 40.000 identifizierten Toten spricht und die Ansicht vertritt, insgesamt 135.000 Tote dürften ungefähr die richtige Zahl sein. Allerdings korrigiert sich Irving zum ersten Mal am 10. Dezember 1964 in einem Leserbrief an die Literaturbeilage der Welt, in dem er behauptet, er habe den ungekürzten Tagesbefehl 47 des Befehlshabers der Ordnungspolizei Dresden vom 22. März 1945 geprüft und für echt befunden. Danach wurden bis 2. März 1945 insgesamt 202.040 Tote festgestellt. Eineinhalb Jahre später rückt Irving davon ab. Am 1. Juli 1966 veröffentlicht die Londoner Times einen neuen Leserbrief Irvings, in dem er einräumt, es habe doch nur 25.000 Tote in Dresden gegeben. Dem widerspricht am 2. Dezember 1974 der Schriftsteller Rolf Hochhuth in einem Interview im Deutschen Fernsehen. Er geht von 202.000 Toten aus. Drei Jahre später schreibt die „Sowjetskaja Wojennaja Enzyklopädija“, Moskau, von „mehr als 120.000 Toten“. Als 1977 das Buch des Journalisten Götz Bergander „Dresden im Luftkrieg“ erscheint (überarbeitete Neuauflage 1994), liest man, nach seinen Forschungen habe es tatsächlich 35.000 Tote gegeben; die Behauptung, Dresdens Innenstadtstraßen seien von ungezählten Flüchtlingswagen gesäumt gewesen, sei so nicht richtig. Lediglich um den Hauptbahnhof herum hätten sich viele Flüchtlinge aus dem Osten aufgehalten. In dieser Weise schwankten die Angaben über Todeszahlen in den vergangenen Jahren. Bemerkenswert darunter ist etwa die Erklärung des ehemaligen 1. Generalstabsoffiziers des Verteidigungsbereichs Dresden, des späteren Oberstleutnants der Bundeswehr, Eberhard Matthes, der damals die Verlustzahlen zusammenzustellen hatte. Danach waren 35.000 Leichen „voll identifiziert“, 50.000 „teilidentifiziert an Hand von Eheringen usw.“. Außerdem meinte er, es habe „168.000 Opfer“ gegeben, „an denen es nichts mehr zu identifizieren gab“. Einander extrem widersprechend waren die ersten Verlautbarungen der Landeshauptstadt Dresden nach der Wiedervereinigung. In Briefen der Jahre 1992, 1993 und 1994 an anfragende Bürger behauptete die Landeshauptstadt, zwar seien die Forschungen noch nicht abgeschlossen, „doch dürften 250.000 bis 300.000 Tote realistisch sein“. Es gibt aber auch Briefe aus der Verwaltung derselben Landeshauptstadt, in denen es heißt, mindestens 35.000 Menschen hätten den Tod gefunden, doch sei diese Zahl „nach oben offen“. Als im Januar 1995 in Dresden eine offizielle Ausstellung über die Luftangriffe veranstaltet wird, liest man in dem Begleitbuch „Verbrannt bis zur Unkenntlichkeit“, die Verluste aller Luftangriffe auf Dresden zwischen dem 13. Februar und dem 17. April 1945 hätten nur etwa 25.000 Menschen betragen. Tatsächlich kennen wir die genaue Zahl der Opfer nicht. Amtliche Dokumente über die Endzahl, die zuverlässig wären, fehlen. Der immer wieder herangezogene „Tagesbefehl Nr. 47“ des Befehlshabers der Ordnungspolizei liegt im Original nicht vor, sondern nur in einer unbeglaubigten Schreibmaschinenabschrift. Ob es das Original gibt, und wenn ja, wo, ist unbekannt. Ob die sowjetische Besatzungsmacht, die etwa drei Monate nach den Bombenangriffen in Dresden einzog, Unterlagen der Stadtverwaltung oder anderer Behörden beiseite geschafft und nach Rußland verschleppt hat, ist unbekannt, aber nicht unmöglich. Auf alle Fälle benutzte sowohl die DDR als auch die Sowjetunion die Angriffe auf Dresden in den Jahren des „Kalten Krieges“ als Propagandawaffe gegen die Anglo-Amerikaner. Jene hingegen, die Verursacher des Massenverbrechens, waren verständlicherweise an hohen Verlustzahlen nicht interessiert und übten vermutlich dementsprechend ihren Einfluß aus. Als der Berichterstatter in den letzten Monaten der deutschen Teilung Gelegenheit hatte, in Hamburg mit dem damaligen letzten DDR-Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, über diese Frage zu sprechen, bestätigte der ihm, bei der Zahl von 35.000 Toten handele es sich um eindeutig identifizierte, während die Anzahl der nicht mehr identifizierten Toten unbekannt sei. Diese Zahl scheint realistisch zu sein, wenn man sie etwa vergleicht mit den Opfern des „Unternehmens Gomorrha“ gegen Hamburg Ende Juli 1943. Auch dort wurde ein Feuersturm entfacht, der allerdings wesentlich größere Flächen als in Dresden erfaßte. Auf Hamburg gingen insgesamt vier schwere Angriffe und mehrere leichte innerhalb einer Woche nieder. Auch dort traf es vor allem – wie beabsichtigt – die eng bebauten, dicht besiedelten Stadtteile. Die genaue Zahl der Opfer ist auch in Hamburg nicht bekannt, doch dürfte die amtliche Zahl von 45.450 Toten den Tatsachen am nächsten kommen. Eines der materialreichsten und sachlichsten Bücher über den Luftkrieg gegen Deutschland stellt das umfangreiche, 1963 erschienene Sammelwerk „Der Zivile Luftschutz im Zweiten Weltkrieg“, herausgegeben von Erich Hampe, dar. Es geht – wie auch das Statistische Bundesamt in seiner amtlichen Veröffentlichung „Wirtschaft und Statistik“ Heft 3/März 1962 – von 60.000 Toten in Dresden aus; man hat also zu den 35.000 zweifelsfrei festgestellten Toten vermutete 25.000 nicht mehr identifizierte hinzugezählt, allerdings ohne dafür Beweise zu haben. Der Vergleich mit Hamburg läßt die Zahl, die mindestens bei 35.000 und höchstens wahrscheinlich bei 60.000 liegt, plausibel erscheinen, doch stellt sich die Frage, wie relevant sie ist für die Beurteilung dieser unmenschlichen Kriegsführung. Überhöhte Zahlen zu kolportieren, entwertet die Ernsthaftigkeit, mit der das Thema behandelt werden muß. Wer aus politischen oder anderen Gründen Opferzahlen übertreibt, erleidet mit dem Fortschreiten der historischen Forschung und dem Sinken politisch korrekter Grenzen immer wieder peinliche Niederlagen.