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Geschichtenerzähler

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Dem Meinungsforschungsinstitut Emnid zufolge vermögen heute nur mehr 20 Prozent der 18- bis 24jährigen den 17. Juni historisch einzuordnen; auf die Berliner Straße des 17. Juni hin angesprochen, erklärt eine überwältigende Mehrheit von Jugendlichen, hier finde alljährlich die Love Parade statt. Vielleicht nicht so erstaunlich, diese Unkenntnis, erwägt man, welche Themen in Unterricht und Öffentlichkeit Priorität genießen. So bekundet etwa Schulleiter Müller von der Potsdamer Lenné-Gesamtschule: „Die Schüler interessieren sich mehr für den Nationalsozialismus und für Nachkriegsereignisse wie für den Vietnamkrieg.“ Die „Episode 17. Juni“, unterstellt er, sei für sie heute nicht mehr wichtig. Diese Einschätzung teilen Zeitzeugen und Betroffene, namhafte Organisationen und die Opferverbände nicht. Der einschlägige Terminkalender der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ verzeichnet im Gedenkjahr bundesweit mehr als 500 geplante Veranstaltungen. Besonders tut sich dabei die Union hervor. Die Erinnerung an 1953 wachzuhalten, so Ursula Männle, Chefin der Hanns-Seidel-Stiftung, sei stets zentrales Anliegen der Parteiinstitute von CDU und CSU gewesen. So steuert die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zum Gedenkjahr 60 Veranstaltungen allein in Berlin bei (www.kas.de). Augenmerk verdient dabei das für den Gedenktag selbst geplante Podiumsgespräch: Ernst Elitz wird unter anderem mit Marianne Birthler, Hans Bentzien und Rainer Eppelmann über das Thema „1953-1989: Deutschland auf dem Weg zu Einheit in Freiheit“ diskutieren. Der 17. Juni als Vermächtnis und bleibende Aufgabe Einen ersten Höhepunkt als festlichen Auftakt der Ereignisse setzte jetzt der 4. Juni. Die Frage „Alles nur Geschichte?“ führte Wissenschaftler, Betroffene und Politiker in großem Rahmen zusammen. So fand der Festakt der Union morgens unter Mitwirkung Angela Merkels und Helmut Kohls im UFA-Kinopalast auf der ehemaligen Stalin-Allee statt, von der 1953 der Aufstand ausgegangen war. Im „Kosmos“ ging es dabei nicht nur um die historischen Fakten selbst, vielmehr um deren geschichtspolitische Dimensionierung. Das unterstrich gleich eingangs Anton Pfeifer, stellvertretender Vorsitzender der KAS, als er den 17. Juni als „Vermächtnis“ und „bleibende Aufgabe“ apostrophierte. Wie umfassend das gemeint war, machte anschließend Angela Merkel deutlich. Schnell ließ sie ihre historische Betrachtung in eine internationale Lageeinschätzung und die neue außenpolitische Agenda der CDU einmünden. Der Rückblick lehre die Priorität der Freiheit vor Gleichheit, den notwendigen Wettbewerb und eine „weltweite Verantwortung“, auch für Deutschland. Besonders freilich für die USA, deren Rolle „als Hegemon“ samt aggressiver Präventionsdoktrin KAS und Merkel ausdrücklich bestätigten. Die „Facetten eines Volksaufstandes“ legte anschließend der Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, mit seinen Dialogpartnern in einem Podiumsgespräch dar. Der Zeitzeuge Fred Ebeling kommentierte positiv die Darstellungen Guido Knopps; der Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz (CDU) betonte die qualitativen Differenzen der sozialistischen Revolten 1953 bis 1989 und wies vor allem auf die veränderten Moskauer Konstellationen hin. Detlef Kühn verdeutlichte den nationalen Aspekt des 17. Juni 1953, und Stefan Wolle vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU erörterte die unrühmliche Rolle der DDR-Intellektuellen seinerzeit. Eher Solidarbewegung als Bekenntnis zum Liberalismus Eine wichtige Rolle fiel naturgemäß Günter Schabowski zu, seinerzeit Redakteur beim FDJ-Organ Tribüne, Sprachrohr der SED-Propaganda, so auch der damaligen Normerhöhungen im Leistungssoll der Betriebe. Schabowski ordnete die Ereignisse einem Kontext zu, dessen Vorgeschichte das Scheitern der Stalin-Note (1952) und den „konsequenten Sozialismusaufbau in der DDR“, den Kirchenkampf der SED, die Verschärfung des „antibürgerlichen Klassenkampfs“, die Enteignungswellen 1952/53, das Defizit an Konsumgütern, schließlich die zehnprozentige Normerhöhungen vom Mai 1953 umfaßt. Nicht zuletzt stand Berlin in einem Problemkonnex mit Moskau, wo der Machtkampf um Stalins Erbe in vollem Gange war. Kaum bemerkt kam der pointierteste Beitrag von dem russischen Historiker Ruslan Grinberg. Quer zur Absicht der KAS, die Nato-Perspektive vergangener Jahrzehnte aktuell zu halten, warnte Grinberg vor einer Selbstgefälligkeit westlicher Dogmen. Daß die Rolle des Repressionssystems nicht bloß ein „Diktator“ traditionellen Zuschnitts, wie Merkel glaubt, einnehmen kann, sondern auch ein wildgewordener Kapitalismus, der die Menschen verheizt, erläuterte er am Beispiel seiner Heimat; mißlinge dort eine Bändigung der Anarchie, werde man über kurz oder lang ähnliches erleben wie Ulbricht 1953. Kein Gemeinwesen überlebe die Totalerosion aller kollektiven Werte. Von da aus verstand er das Wesen des 17. Juni gerade nicht als Liberalismus, sondern klar als Solidarbewegung – eine subkutane Gegenwartskritik, deren intellektuelle Brisanz weiter führt als atlantische Ergebenheitsadressen. Als abschließender Höhepunkt des Festakts folgte das mit Spannung erwartete Gespräch zwischen Helmut Kohl und Horst Möller vom Institut für Zeitgeschichte in München, eine Stunde, die der Altkanzler weniger zum Dialog denn als historische Kaminplauderei nutzte. Möllers Ergebenheit, seine gescheiten Gesprächsvorlagen und geschliffenen Formulierungen richteten indes wenig aus, Kohl vollzog lieber eine gemächliche tour d’horizon und bekräftigte seine alten Positionen mit Seitenhieben auf einstige Gegner: Wohltuend immerhin mancher Fingerzeig am Rand, so seine Forderung nach umfassend-unverkürzter Geschichtsbildung im Unterricht, seine Zurückweisung einer angeblichen „Gefahr von Rechts“ als realitätsferner Unfug und die Akzentuierung des Erlebnisaspekts für das historische Erinnern. Sein letztes Wort über den 17. Juni 1953: „Es waren großartige Patrioten.“ Symbolische Bewirtschaftung gereicht Union zum Vorteil Der Juni-Aufstand hätte den Sturz der SED, zumal Ulbrichts, zur Folge gehabt, wären beide nicht durch das Eingreifen der Russen gerettet worden. So fielen die Folgen schrecklich aus. 1,2 Millionen Menschen waren in 700 Orten und Gemeinden auf die Straße gegangen, 1.000 Betriebe waren bestreikt worden. Jetzt kam es zu 13.000 Festnahmen und 1.500 teils langjährigen Haftstrafen. Welche menschliche Dimension sich hinter solch dürren Hinweisen verbirgt, ließ das Nachmittagsprogramm der KAS erahnen, in dessen Zentrum die Opfer mit ihren zerstörten Biographien standen. Neben Referaten Melanie Piepenschneiders, Günter Buchstabs und Ursula Männles präsentierte der Filmemacher Dirk Jungnickel erstmalig seinen neuen Film „Agenten, Faschisten und Provokateure …“ als fünften Teil seiner Dokureihe „Zeitzeugen“; dort läßt er Betroffene der Willkürjustiz nach dem Aufstand exemplarisch zu Wort kommen. Mit zwei von ihnen diskutierte anschließend Ehrhart Neubert. Beklemmend zeigte sich das doppelte Leid der politischen Verfolgung und des Verschweigens aus Opportunitätsgründen: Die Opfer der SED-Diktatur waren in Zeiten der Entspannungspolitik so unbequem wie im wiedervereinigten Deutschland. In der DDR war ihr Leiden tabu, heute bleibt es lästig – für die einstigen Täter selbst und vor dem Hintergrund einer Ideologie, die Deutschen den Opferstatus generell abspricht. Weitere Augenzeugenberichte, politische Protestsongs und eine Plakatausstellung im Haus beschlossen die Programmfolge über ein ernstes Thema, dessen symbolische Bewirtschaftung für die Union nur vorteilhaft sein kann. Foto: Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßt Günter Schabowski: „Es waren großartige Patrioten“

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