Wenn in diesen Tagen vom „gemeinsamen Erbe der Menschheit“ die Rede ist, dann sind damit entweder geplünderte Kulturschätze in Bagdad oder die Totalsequenzierung des menschlichen Erbgutes gemeint. Mit jenen Worten jedenfalls haben am 14. April in Washington die beteiligten Staaten Deutschland, Frankreich, Japan, USA, China und Großbritannien die Vollendung des größten Projektes der Biologiegeschichte gewürdigt. Kommt uns das nicht bekannt vor? Tatsächlich wurde vor knapp drei Jahren schon einmal die angebliche Vollendung des Humangenomprojektes im Weißen Haus zelebriert. Zwar waren damals erst 85 Prozent der Arbeit abgeschlossen, aber die erbitterte Konkurrenz zweier Forschergruppen einerseits und der beiden tonangebenden Wissenschaftsjournale Nature aus London und Science aus New York andererseits duldete keinen Aufschub. Nun sind etwa 99 Prozent fertig. Also wieder keine echte „Total“-Sequenzierung, aber immerhin gab es diesmal einen guten historischen Grund, vorzeitig an die Öffentlichkeit zu gehen: der fünfzigste Geburtstag der DNS-Doppelhelix, mit der alles begann. Am 25. April 1953 erschien in Nature jene Jahrhundertveröffentlichung James Watsons und Francis Cricks, in der sie die berühmte Wendeltreppenstruktur des Erbmoleküls Desoxyribonucleinsäure (DNS) vorstellten. Strenggenommen sind es zwei Moleküle, die kettenförmig aus vier verschiedenen Einzelbausteinen – sogenannten Nukleotiden – aufgebaut sind. Durch die Abfolge (Sequenz) dieser Nukleotide passen sie wie Positiv und Negativ zueinander. Normalerweise bilden die Einzelstränge einen Doppelstrang, doch können sie getrennt werden und jeweils als Matrize zur Synthese des fehlenden Partnerstranges dienen. DNS ist also ein Doppelmolekül mit der Fähigkeit, sich zu vervielfältigen. Mit dieser Entdeckung konnte erstmals ein biologisches Schlüsselphänomen, die Vererbung, auf chemisch-molekularer Grundlage erklärt werden. Was heißt erklären? „Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, daß die spezifischen Nukleotidpaarungen, die wir postulieren, unmittelbar einen möglichen Kopiermechanismus für das Erbgut nahelegen“, so die berühmte, scheinbar beiläufige Bemerkung der Autoren, die je nach Betrachter als klassisch-britisches Understatement gerühmt oder als snobistische Arroganz verdammt wurde. War diese vorsichtige Formulierung in einer Ein-Seiten-Publikation ohne eigene experimentelle Daten wirklich schon eine Erklärung? Skepsis war in der Tat angebracht. Falsche Strukturmodelle der DNS hatten damals Hochkonjunktur. Nicht nur Linus Pauling, der berühmte Strukturchemiker und Hauptkonkurrent der beiden, hatte ein solches in die Welt gesetzt, auch Watson und Crick selbst hatten schon einmal im kleineren Kreise ein DNS-Strukturmodell vorgestellt und damit ein derartiges Fiasko erlebt, daß ihnen offiziell verboten wurde, sich weiterhin mit DNS zu beschäftigen. Sie taten es trotzdem heimlich: so zumindest das heroische Bild, das Watson selbst später gezeichnet hat. Das neue Strukturmodell hingegen hatte eine solidere experimentelle Basis, als Watson und Crick selbst zugeben wollten. Sie sind auffällig bemüht, den Anteil ihrer kongenialen Zuarbeiter Maurice Wilkins und Rosalind Franklin klein zu halten. So weisen sie zwar auf deren experimentelle Daten hin, betonen dann aber in einer merkwürdig verklausulierten Weise, daß ihnen diese Details bei der Entwicklung ihres Modells nicht bekannt gewesen seien. Was auch immer an Berichten über heimlich weitergegebene Manuskripte und Forschungsanträge stimmen mag, Tatsache ist, daß allen Beteiligten klar war, daß es hier um mehr ging als um irgendeine Molekülstruktur. Mit der Doppelhelix war der jahrzehntelange Streit, ob Proteine die Erbmoleküle sind oder ob es die Desoxyribonucleinsäure (DNS) ist, schlagartig entschieden. Gleichzeitig endet mit ihr die Vorgeschichte der Molekularbiologie, die „romantische Phase“, wie man sie später nannte. Sie war durch tiefschürfende Diskussionen berühmter Quantenphysiker über die Natur des Lebens und die mögliche Existenz spezieller Naturgesetze in Lebewesen geprägt gewesen. Mit der Doppelhelix dagegen war unmittelbar klar, daß die DNS durch ihre Nukleotidsequenz Informationen speichert und daß ihr Kopiermechanismus ausschließlich auf bekannten chemischen Wechselwirkungen beruht. Auf die romantische folgte die „dogmatische Phase“ der Molekularbiologie, ausgerichtet an der Erkenntnis, daß die genetische Information von der DNS zu den Proteinen, den eigentlichen Funktionsträgern der Zelle, „fließt“ und nie umgekehrt. Dieses „Zentrale Dogma der Molekularbiologie“ wurde seither in verschiedener Weise ausgebaut und modifiziert, in seinem Kern jedoch immer wieder bestätigt. Auch Proteine sind riesige Makromoleküle aus linear verknüpften Bausteinen, nämlich zwanzig sogenannten Aminosäuren. Die genetische Information taucht bei ihnen als „Aminosäuresequenz“ wieder auf. Um die Lücke zwischen DNS und Proteinen zu schließen, muß es also eine Übersetzungsanweisung geben. Innerhalb von gut zehn Jahren gelang es, diesen „genetischen Code“ vollständig zu entschlüsseln. Als Watson, Crick und – eine späte Genugtuung – Wilkins 1962 ihren Nobelpreis bekamen, schien die Molekularbiologie bereits ihren Zenit überschritten zu haben. Schon 1968 erschien in Science ein erster und vielbeachteter Abgesang, in dem postuliert wurde, daß nunmehr die letzte, die akademische Phase des Gebietes begonnen habe. In der Tat: Die Zeit der Avantgarde, der Konvertiten aus der Quantenphysik, die sich in der Biochemie nur für das Prinzipielle interessiert hatten, war vorüber. Die Molekularbiologie war zum wissenschaftlichen Allgemeingut geworden – und sollte trotzdem noch für manche Sensation sorgen. Die Biologie wurde zur synthetischen Wissenschaft In Wahrheit nämlich hatte die molekulare Genetik die Biologie gegen Ende der sechziger Jahre an eine Schwelle geführt, die die Chemie bereits 140 Jahre zuvor überschritten hatte, nämlich die zur synthetischen Wissenschaft. Mit der Organischen Chemie des 19. Jahrhunderts war es dem Menschen erstmals gelungen, gezielt neue chemische Verbindungen zu erzeugen – und damit seine Umwelt nachhaltiger zu verändern, als es jemals zuvor geschehen war. Nunmehr stand auch die Biologie an diesem Punkt, neue Entitäten herstellen zu können, lebende Zellen, die es in der Form bis dahin in der Natur nicht gegeben hatte. Ohne Übertreibung wird man sagen können, daß hiermit ein neues Kapitel in der Kulturgeschichte der Menschheit bevorstand. Die prinzipielle Möglichkeit zur synthetisch-schöpferischen Biologie eröffnete sich durch die Universalität des genetischen Codes. In allen Lebewesen gültig, ist er die eindrucksvollste Bestätigung ihrer evolutionären Verwandtschaft, eine Erkenntis von fast religiöser Dimension. Wenn aber die Grundregeln zellulärer Datenverarbeitung in allen Organismen gleich sind, dann sollte es möglich sein, Gene in fremde Wirtszellen zu transportieren und dort in Proteine übersetzen zu lassen, Gene und Genome also in einer neuartigen Weise zu kombinieren. Ohne geeignete Mittel wäre es allerdings bei dieser prinzipiellen Möglichkeit geblieben. Die wichtigsten „Werkzeuge“ dieser neuartigen „rekombinanten“ DNA-Technologie waren die sogenannten „Restriktionsendonukleasen“, von denen die erste 1969 entdeckt wurde. Mit diesen Enzymen lassen sich riesige DNS-Moleküle in handliche Stücke zu zerschneiden, die man hinterher gezielt miteinander kombinieren kann. DNS enthält die Bauanleitung für jedes Protein Das erste „rekombinante“ DNS-Molekül mit Genen fremder Spezies wurde 1972 beschrieben. Im Jahr danach erblickte die erste gentechnisch veränderte Zelle das Licht der Welt. Die drei Pioniere dieser Arbeiten, Paul Berg, Stanley Cohen und Herbert Boyer, prägten auch die nächsten Jahre dieser neuen Technologie, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Berg gehörte zu den ersten Warnern vor möglichen Umweltschäden durch rekombinante DNS-Moleküle. Er wurde Leiter einer US-amerikanischen Kommission mit der Aufgabe, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu erarbeiten. Doch allem „vorauseilenden Gehorsam“ zum Trotz: Die Gentechnologie geriet in das Visier der aufkeimenden Ökologiebewegung und wurde zu einem politischen Problem. Daß sie schließlich Gegenstand vernünftiger gesetzlicher Regelungen geworden ist, beruht wohl darauf, daß parallel zu den Risiken auch die Nutzungsmöglichkeiten wahrgenommen wurden. Dies war das Feld von Cohen und vor allem Boyer, mit denen die konsequente Kommerzialisierung der Molekulargenetik begann. Boyer war 1976 Mitgründer der Firma „Genentech“, die 1977 mit dem Hormon Somatostatin erstmals ein menschliches Protein rekombinant herstellte. Genentech entwickelte auch ein Verfahren zur rekombinanten Produktion von Humaninsulin, das dann 1982 von der Firma Eli Lilly als erster synthetischer Protein-Wirkstoff auf den Markt gebracht wurde. Um jedoch die neue Technik wirklich effektiv einsetzen zu können, mußten Gene erst einmal gefunden, isoliert und analysiert, das heißt sequenziert werden. Bis in die siebziger Jahre hinein galt die Sequenzierung von DNS als ungleich schwieriger als die der Proteine. Dies änderte sich schlagartig im Jahre 1977, als Walter Gilbert und Frederic Saenger zwei dazu geeignete Methoden vorstellten, von denen sich die Sanger-Methode in der Folgezeit als effizienter herausstellen sollte. Schon 1978 veröffentlichte Sanger erstmals die komplette Genomsequenz einer biologischen Entität. Es handelte sich um die aus 5386 Bausteinen bestehende DNS eines kleinen Virus, des Bakteriophagen PhiX174. Sanger ist übrigens einer der wenigen Doppel-Nobelpreisträger der Geschichte, und das obwohl seine Publikationsliste nicht einmal 50 Titel umfaßt. Er arbeitete in Cambridge am „Laboratory of Molecular Biology“ des „Medical Research Council“, in dem auch Watson und Crick ihre Doppelhelix gebastelt hatten, und das im Laufe von 50 Jahren nicht weniger als 12 Nobelpreiträger hervorgebracht hat. Sanger selbst hat der Tatsache, daß er über Jahre hinweg keine Anträge und Publikationen schreiben mußte, eine entscheidende Bedeutung für sein kreatives Wirken zugeschrieben. Ein wichtiger Erfolg Sangers war, daß er die DNS-Sequenz des Phagen PhiX174 unmittelbar in die Aminosäuresequenzen von dessen zehn Proteinen übersetzen konnte. Genau dies nämlich, die Identifizierung sämtlicher kodierter Proteine, wurde später zum Kernziel des Humangenomprojektes (HGP). Sanger selbst startete ein „kleines HGP“, indem er nämlich die 15569 Nukleotide lange DNS menschlicher Mitochondrien – Zellorganellen mit einem eigenen genetischen Apparat – sequenzierte. Allerdings waren die technischen Möglichkeiten noch über Jahre hinweg eng begrenzt. DNS-Sequenzierung war damals Handarbeit, so daß ein eingearbeitetes Labor vielleicht 500 Positionen täglich schaffen konnte. Um die drei Milliarden Positionen des Humangenoms abzuarbeiten, hätte man nach damaligem Stand der Technik hundert Spitzenlaboratorien über 160 Jahre lang rund um die Uhr beschäftigen müssen. Daher bezogen sich noch alle Totalsequenzen der achtziger Jahre auf Viren, und erst 1995 wurde die erste komplette DNS-Sequenz einer lebenden Zelle publiziert. Dennoch: Die Idee zur Totalsequenzierung des menschlichen Genoms war in der Welt, und bereits 1985 wurden erste Pläne zu ihrer Umsetzung geschmiedet. Sequenzen mit Konsequenzen über das Fach hinaus „Absurd!“, „unmöglich!“, „gefährlich!“, so lauteten bereits damals Urteile profilierter Kritiker aus der Fachszene. Sie bezweifelten nicht nur die technische Machbarkeit des Mammutprojektes, sondern kritisierten auch den zu erwartenden enormen Finanzbedarf. Zweifellos würde das HGP das erste „Big Science“-Projekt der Biologiegeschichte sein, das über Jahre hinweg riesige Mittel zu Lasten kleinerer Projekte an sich binden würde. Ein weiterer Einwand war erkenntnistheoretischer Natur: DNS-Sequenzierung sei, so die Skeptiker, ein bloßes Sammeln von Daten ohne wissenschaftlichen Anspruch. Diese Kritik hatte zwei Hintergründe: Erstens war schon in den achtziger Jahren bekannt, daß der weitaus größte Teil der menschlichen DNS nicht-informativ ist. Gene machen maximal drei Prozent des gesamten DNS-Moleküls aus. Der Rest ist „evolutionärer Müll“, den zu sequenzieren – so die Kritik – eine Verschwendung von Zeit und Geld sei. Und zweitens hat man nach Identifizierung eines Gens noch keinerlei Vorstellung von seiner Funktion. Im Gegensatz zu den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis sucht man also blindlings ohne fundierte wissenschaftliche Hypothese. Doch trotz aller Einwände kam das HGP langsam in Fahrt, getrieben durch mancherlei persönliche Eitelkeiten, nationales Prestigedenken, kommerzielle Interessen, vor allem aber durch riesige Technologiesprünge auf allen Ebenen: Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) wurde 1985 entdeckt, mit deren Hilfe man selbst kleinste Mengen DNS beliebig oft vervielfältigen konnte. Strategien wurden entwickelt, um lange DNS-Moleküle in einer sinnvollen Weise zu portionieren. Die Sequenzierung selbst wurde konsequent automatisiert und beschleunigt. EDV-Programme wurden geschrieben, um sequenzierte DNS-Stücke korrekt aneinander zu setzen und riesige Buchstabensequenzen miteinander zu vergleichen. Am 1. Oktober 1990 schließlich, zwei Tage vor der Wiedervereinigung Deutschlands, fiel in den USA der offizielle Startschuß für das HGP. Der erste Leiter war James Watson, beraten von einer Expertenkommission, die die wissenschaftliche Marschrichtung vorgab: Zunächst sollte das menschlische Genom kartiert werden, das heißt die Genorte der damals geschätzten 100.000 menschlichen Gene auf den Chromosomen sollten bestimmt werden. Erst danach sollten die DNS-Regionen mit dem größten medizinischen Interesse sequenziert werden. Zudem sollten durch Totalsequenzierung einfacherer Genome die nötigen Erfahrungen gesammelt werden. Schließlich sollten drei bis fünf Prozent des jährlichen Budgets verwendet werden, um die ethischen und juristischen Probleme sowie die sozialen Auswirkungen des Projektes zu erforschen. Manchen war dieses vorsichtige Vorgehen zu langsam. Zudem gab es heftigen Streit um die Verwendung der Sequenzdaten. Dürfen Gene, von denen man nichts weiß außer ihrer Sequenz, patentiert werden? Müssen die Daten nicht im Gegenteil unverzüglich und uneingeschränkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? Am Ende gab es zwei HGPs, deren Konkurrenz das ganze Vorhaben erneut beschleunigte: das öffentlich geförderte, das die akademische Tradition hochhielt, und ein kommerzielles der eigens gegründeten Firma Celera. Mit der nun fast vollendeten Totalsequenz der humanen DNS endet vorläufig die Geschichte dieses bemerkenswerten Moleküls. Sie hatte 1869 in Tübingen mit der Entdeckung der DNS durch Friedrich Mielscher begonnen und war bis 1972 eine reine Forschungsgeschichte, die durch ihre Konsequenz besticht. Seither ist DNS mehr als ein Molekül: Sie ist ein Politikum, eine Goldgrube, ein forensisches Beweismittel, ein Gegenstand der Enquetekommissionen und Feuilletons. Vor allem aber ist sie ein Erbstück aus drei Milliarden Jahren Evolution, das es gut zu behüten gilt.