Der deutsche Freiheitsdom steht in Leipzig: das Völkerschlacht-Nationaldenkmal. Als es am 18. Oktober 1913 zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht eingeweiht wurde, war das Deutsche Reich ein junger dynamischer Staat, gerade einmal 42 Jahre alt, mit einem selbstbewußten, patriotisch gesinnten Bürgertum, das sich hier ein einzigartiges Denkmal gesetzt hatte, mit dem es der deutschen Erhebung gegen die napoleonische Fremdherrschaft und der nationalen Wiedergeburt Deutschlands „bis in der fernsten Zeiten Lauf“ erinnern wollte.
Das Denkmal war schon deswegen völlig neuartig, weil es keinen Fürsten darstellte und dessen Verdienste rühmte, sondern das deutsche Volk in seiner Gesamtheit. Es sollte sein ein „Dankeszeichen für den allmächtigen Gott, der mit uns war, ein Ehrenmal für die gefallenen Helden, ein Sinnbild des kettensprengenden, zum Lichte drängenden deutschen Gedankens, ein Ruhmestempel der deutschen Art, im reinsten Idealismus geläutert, in eiserner Zeit bewährt und gestählt, ein Wahrzeichen für kommende Geschlechter, den auf dem Grunde der Freiheit erwachsenen machtvollen Reichsbau zu schirmen und zu fördern“.
So formulierte es Denkmalinitiator Clemens Thieme (1861–1945) am Tag der feierlichen Einweihung. Das Denkmal sollte ein Sinnbild für die nationale Bewegung sein, „die Taten der Väter ehrend, vorwärtsschauend die Söhne zu Taten entflammend“.
Neuer, deutscher Baustil
Trotzdem grenzt es an ein Wunder, daß dieses Denkmal errichtet werden konnte. Als Thieme 1894 den Deutschen Patriotenbund zur Errichtung eines Völkerschlacht-National-Denkmals bei Leipzig ins Leben rief, stand nicht mehr 1813 als wichtiges historisches Datum im Fokus des öffentlichen Bewußtseins, sondern die Reichsgründung 1871.
Vergessen schien der Ruf des Freiheitsdichters Ernst Moritz Arndt von 1814 nach einem Denkmal so „groß und herrlich, wie ein Koloß, eine Pyramide, ein Dom in Köln“. Zwar hatte es immer wieder Versuche gegeben, waren sogar Grundsteine verlegt worden, waren im Umfeld von Leipzig unzählige kleine Denkmale entstanden, wurden imposante Nationaldenkmale wie die für Kaiser Wilhelm an der Porta Westfalica und auf dem Kyffhäuser errichtet, aber keines, das der mythisch beschworenen Volksgemeinschaft als dem eigentlichen Helden der Befreiungskriege gewidmet war.
Der Glücksfall hieß Clemens Thieme, Freimaurer, Deutschnationaler und Stadtrat. Als Architekt und Projektleiter hatte er Erfahrungen beim Bau des Leipziger Hauptbahnhofs gesammelt. Er verfügte über Organisationstalent, Ehrgeiz und Überzeugungskraft und sah es als seine Aufgabe an, den langen Plan eines Völkerschlacht-Nationaldenkmals zu verwirklichen. Dieses sollte in einem neuen, deutschen Baustil errichtet werden und sich auch von den anderen Denkmälern der wilhelminischen Ära abheben.
Völkische Vorstellung des Germanischen visualisieren
So waren nur deutsche Architekten zugelassen, als 1895 eine Ausschreibung erfolgte. Allerdings entsprach kein Entwurf den Vorstellungen Thiemes von einem originär deutsch-germanischen Stil beziehungsweise dem von Arndt gewünschten einzigartigen Nationaldenkmal. Schließlich wurde der Auftrag nach einer zweiten Ausschreibung an Bruno Schmitz (1858–1916) vergeben, dem damals berühmtesten deutschen Denkmalsarchitekten. Dessen Entwurf legte das Schwergewicht auf die „Erzielung eines starken einheitlichen Eindrucks, auf eine entschiedene Betonung der Größe gegenüber dem bisher namentlich in der Nachahmung des Barocks vorherrschenden Reichtum“.
Bereits zuvor hatte Thieme gefordert, daß das Denkmal hart und steng in seinen Formen sein, „mehr architektonischen als bildkünstlerischen Schmuck enthalten“ und eine landschaftsbeherrschende Stellung einnehmen müsse. Alles sollte „den Stempel feierlicher innerer Sammlung und würdiger Hingabe an das eine große Ziel tragen: Entfesselung des Vaterlandes aus den Banden der Knechtschaft.“ Ohne Säulen und Pilaster sollte der Bau der völkischen Vorstellung des Germanischen entsprechen, als des von der antiken Kultur noch Unberührten.
Der mit dem Entwurf der Figuren beauftragte deutsch-österreichische Bildhauer Franz Metzner (1870–1919) griff auf vorklassische Vorbilder zurück und schuf eine völlig neue völkische-nordische Monumentalkunst. Die Riesenfiguren „sind Schicksalträger, dämonische Halbgötter, symbolhaft tiefsinnige Traumerscheinungen, doch stets gerüstet zu grimmiger Abwehr“, schrieb seinerzeit der Kunstkritiker Franz Servaes.
Anfeindungen von rechts und links
„Der gebildete Deutsche fühlte vor 100 Jahren weltbürgerlich, ein deutsches Volksempfinden fehlte ihm, ja, er schämte sich wohl gar seines Deutschtums. Er ahmte fremde Sitten, fremdes Wesen nach, um – wie er meinte – das rein menschliche Bildungsideal zu leben. Er fühlte nicht, daß er dabei den Boden unter den Füßen verlor, daß Menschentum ohne Volkstum nur eine kraft- und heimatlose Armseligkeit ist, in den Augen und in der Faust eines Menschen wie Napoleon eine Lächerlichkeit“, schrieb Thieme 1913 in der Festschrift zur Einweihung des Völkerschlacht-National-denkmals. Äußerungen, die wohl dem kritischen Unbehagen geschuldet sind, mit dem der Patriotenbund beobachtete, wie die Sozialdemokratie in Leipzig immer größeren Einfluß gewann.
Die Denkmalsidee und deren Initiatoren waren lange Zeit von rechts wie links angefeindet worden. In einer 1897 erschienenen Flugschrift des Verbandes der Ortsausschüsse für Nationalfeste am Kyffhäuser hieß es, daß Leipzig „keine allen deutschen Volksstämmen gemeinsame sympathische, große nationale Erinnerung“ biete. Für die Sozialdemokraten war „die Denkmalsfrage“ ohnehin nur „das Mäntelchen, welches der Patrioten-Bund seinen politischen Endzwecken, gegen den Zusammenschluß der Sozialdemokraten eine andere Vereinigung zu setzen, umhängt“.
Protektorat über das Projekt lehnte Kaiser Wilhelm ab
Zu den deutschen Fürsten war das Verhältnis ebenfalls gespannt. Da diese die Einladung zur Grundsteinlegung 1900 ignoriert hatten und der Kaiser das ihm angetragene Protektorat über den Bau abgelehnt hatte, rächte sich Thieme, indem er seinerseits während der Denkmalsweihe den anwesenden Wilhelm II. ignorierte, lediglich den sächsischen König begrüßte und sich dann an „deutsche Brüder, deutsche Schwestern“ wandte.
Für Thieme und seine Mitstreiter galt der 18. Oktober 1813 als Geburtstag des deutschen Volkes und der Beginn seiner politischen Mündigkeit. „Der Held des Denkmals ist das ganze deutsche Volk, welches sich erhob“, so Architekt Schmitz.
Allerdings gab es schon vor hundert Jahren durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen. So war das Wort „National“ schon vor der Weihe aus einigen Broschüren verschwunden. Ein Leipziger Denkmalführer von 1903 schreibt nur vom „Völkerschlachtdenkmal“. Heute wird das 91 Meter hohe Bauwerk, das in seiner Größe und Massigkeit noch immer fasziniert, als Ort lebendiger Erinnerung gewertet und als Mahnmal für Frieden, Freiheit, Völkerverständigung und europäische Einheit interpretiert.
JF 43/13