Friedrich Merz ruft beim Wehretat zum fiskalischen „Whatever it takes“ auf. Auch für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen „stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Sicherheit Europas tatsächlich bedroht ist“. Mit „Rearm Europe“ skizzierte die frühere CDU-Verteidigungsministerin vorige Woche ebenfalls ein massives Aufrüstungsprogramm der EU. Es besteht aus fünf Kapiteln. Erstens plant die EU, den Mitgliedstaaten „mit einem neuen Instrument“ Darlehen für Verteidigungsausgaben in Höhe von 150 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen – vorrangig denen, die aufgrund ihrer jetzt schon hohen Schuldenstände den Zugang zum Kapitalmarkt verlieren könnten.
Eine EU-Verschuldung wäre jedoch rechtlich fragwürdig, da sie keine kreditfinanzierten Zuschüsse vergeben darf (Artikel 310 AEU-Vertrag). Zweitens wird die Aktivierung der nationalen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) empfohlen, so daß bei einer Aufstockung des Wehretats um 1,5 Prozentpunkte ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) weitere 650 Milliarden Euro über zusätzliche Schulden für die Verteidigung aufgebracht werden könnten.
Neuverschuldung steht im Zentrum von „Rearm Europe“
Drittens sollen Mittel aus dem bestehenden EU-Haushalt des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für den Verteidigungsbereich umgewandelt werden. Viertens könnte die Europäische Investitionsbank (EIB) zukünftig ihre ESG-Kreditstandards (Environmental, Social and Governance) hin zur Finanzierung der Rüstungsindustrie öffnen. Schließlich sollen Effizienzpotentiale bei der Rüstungsbeschaffung durch die Harmonisierung der Anforderungen und einen gemeinsamen Einkauf der derzeit stark zersplitterten nationalen Rüstungsindustrien gehoben werden.
Damit steht Neuverschuldung im Zentrum von „Rearm Europe“, obgleich die Verteidigung als Kernaufgabe des Staates grundsätzlich aus laufenden Einnahmen bestritten werden sollte. Haushaltsumschichtungen, ein „Ertüchtigungssoli“ oder eine einmalige Vermögensabgabe werden nicht in Erwägung gezogen. Will man so mögliche Finanzierungswiderstände vermeiden? Doch neue Schulden sind nur scheinbar kostenlos. Neben der Rückzahlung wird die Verzinsung künftige Haushaltsspielräume einschränken. Zwar erzeugen kreditfinanzierte Militärausgaben durch zusätzliche Beschäftigung bzw. Produktion einen gewissen Wachstums-/Multiplikatoreffekt.
Die Folgen sind kaum absehbar
So führt nach einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) der Anstieg der Verteidigungsausgaben der EU-Staaten von zwei auf 3,5 Prozent des BIP zu einem gesamteuropäischen BIP-Anstieg um 0,9 bis 1,5 Prozent. Allerdings hängt das stark davon ab, wieviel des Rüstungsetats ins Nicht-EU-Ausland abfließt. Laut dem aktuellen Sipri-Bericht stammen 60 Prozent der importierten Waffen der europäischen Nato-Staaten aus den USA. Außerdem könnten Fachkräftemangel und unzureichende Produktionskapazitäten im Rüstungssektor zu Lohn- bzw. Preissteigerungen führen – inflationäre Wirkungen für die gesamte Volkswirtschaft eingeschlossen.
Neue Kreditspielräume mindern den Konsolidierungsdruck in den Haushaltsplänen. Fraglich ist auch, ob die Verteidigungsministerien dem Geldregen gewachsen sind oder dort ein „spendables Weiter-so“ Einkehr hält. Dies betrifft nicht nur die bislang ausgebliebene Reform des Beschaffungswesens, sondern auch die Mittelverwendung für neue Waffensysteme. Sind millionenschwere Fregatten, Kampfpanzer und Hubschrauber angesichts der neuen Drohnentechnologie noch angemessen? Es drohen Geldverschwendung durch Panikkäufe und militärisch kontraproduktive Beschaffungen.
Die Folgen der Staatsverschuldungen sind kaum abschätzbar. Eine weitere Aufweichung des SWP durch die Ausnahme von kreditfinanzierten Verteidigungsausgaben dürfte der letzte Schritt hin zu einer Schuldenunion sein. Drei Tage nach der Rearm-Europe-Ankündigung sprangen die Renditen italienischer Staatsanleihen von 3,62 auf 3,98 Prozent und französischer von 3,23 auf 3,56 Prozent. Auch deshalb fordern die süd- und osteuropäischen EU-Länder „Eurobonds“: Gemeinschaftsanleihen mit Gemeinschaftshaftung. Deutschland würde nicht nur seine AAA-Bonität verlieren – es müßte dann auch einen höheren Zinssatz zahlen und gleichzeitig für insolvente Eurostaaten eintreten.
Droht mit der Aufrüstung eine neue Euro-Staatsschuldenkrise?
Frühere gemeinschaftliche Schuldenprogramme belasten die EU bzw. die Mitgliedstaaten bereits in einer Gesamthöhe von 1,2 Billionen Euro. Im Schnitt haftet Deutschland dort mit einem Anteil von rund 25 Prozent, also mit etwa 305 Milliarden Euro. Eine neue Euro-Staatsschuldenkrise könnte damit auf uns zukommen. Doch auch hier hat man vorgesorgt. Mit dem 2022 eingerichteten, aber nicht öffentlich gemachten Transmission Protection Instrument (TPI) kann die EZB notleidende Staatsanleihen selektiv ankaufen, „um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken“. Faktisch handelt es sich um eine verbotene monetäre Staatsfinanzierung (Artikel 123 AEUV), in diesem Fall sogar um eine bewußt herbeigeführte national initiierte Geldschöpfung durch die jeweiligen Mitgliedstaaten. Insofern droht auch von dieser Seite ein Inflationsschub.

Deutschland und Europa müssen nach dem Wegfall der US-Garantien eine eigene Verteidigungsfähigkeit aufbauen, um sich militärisch gegen mögliche Angriffe zur Wehr setzen zu können. Doch muß zunächst geklärt werden, was Landes- und europäische Bündnisverteidigung 2025 und in den nächsten Jahren erfordern. Rußland ist Kriegsgegner der Ukraine. Doch ist es auch militärischer Kriegsgegner der Nato, wie bislang unterstellt wird? Dazu gehören zwei Dinge: ein Können und ein Wollen. Der Verlauf des Ukrainekrieges läßt zumindest Zweifel am zukünftigen Angriffspotential Rußlands aufkommen. Sicherheit beruht auf Gegenseitigkeit und darf nicht auf der Unsicherheit eines anderen Staates aufgebaut werden. „Rearm Europe“ könnte aber der Anfang einer unkalkulierten Aufrüstungsspirale werden.