BERLIN. Die Wirtschaftswissenschaftlerin und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Veronika Grimm, hat das Sondierungspapier von Union und SPD kritisiert. Es handele sich um ein „gigantisches Unsicherheitspaket“, das in der EU zu einer Schuldenkrise führen werde, sagte Grimm am Montag dem Focus.
Die geplanten Schulden würden „in großen Teilen nicht zusätzlich für zukunftsorientierte Aufgaben verwendet werden, sondern dafür, Spielräume im Kernhaushalt zu schaffen, um weitere Sozialausgaben und Vergünstigungen zu verankern oder sie aufrechtzuerhalten“, sagte Grimm. Man schaffe eine Situation, die für künftige Generationen und Bundesregierungen immer auswegloser werde.
Wirksame Reformen „werden immer schwieriger umzusetzen sein und dürften auf demokratischem Wege irgendwann unmöglich sein“, betonte die Ökonomin, die seit 2020 im Sachverständigenrat sitzt und dort die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen berät weiter. Die „gigantischen Schulden“ dürften „absehbar in eine Schuldenkrise in der Europäischen Union führen“, da die Zinsen auf Staatsanleihen stiegen. Das werde „insbesondere den hochverschuldeten Staaten der Eurozone die Finanzierung zusätzlicher Verteidigungsausgaben erschweren“.
Grimm: Fehlende Schuldtragefähigkeit werde „Begehrlichkeiten“ wecken
Es werde Deutschland schwerfallen, sich an den EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt zu halten – dem Pakt der EU-Wirtschafts- und Währungsunion, der Mitgliedsstaaten verpflichtet, solide öffentliche Finanzen zu garantieren. Bei anderen EU-Staaten, „deren Schuldtragfähigkeit schon jetzt infrage steht“, werde dieser Umstand „Begehrlichkeiten“ wecken, sagte Grimm.
Die Frage sei „eigentlich nur“, betonte die Wirtschaftswissenschaftlerin, wie lange es dauere, bis „es irgendwo schiefgeht“. Je weniger Wachstum ausgelöst werde, desto unangenehmer werde die Situation. „Und nachhaltiges Wachstum zeichnet sich nicht ab, eher ein vorübergehendes Strohfeuer durch die höheren Ausgaben.“
„Das Geld soll Probleme kaschieren“
Dabei bestehe in Deutschland in vielen Bereichen Reformbedarf – „Energie, Klima, Rente, Digitalisierung, Gesundheit, Wohnen, Bauen“. Bei vielen Themen sei erkennbar, daß „das neue Geld Probleme kaschieren“ solle, etwa beim Wohnen. So wolle die kommende Regierung etwa die Mietpreisbremse verlängern und staatlichen Wohnungsbau stärken – was die kommenden Generationen über Kreditaufnahme bezahlen müßten. „Besser wäre es, durch Anpassungen in der Regulierung den privaten Wohnungsbau zu stärken.“
Auch auf X äußerte Grimm Kritik an der Finanzpolitik von Union und SPD. Diese sei „ein Fortführung der letzten Merkel-Regierungen, nur ohne Friedensdividende, sondern auf Basis gigantischer Schulden“. Deutschland begebe sich „trotz Warnungen in Risikoszenarien“, weil es „offenbar nicht möglich“ sei, „auch nur ein paar Jahre weiter zu denken“.
Wieder begeben wir uns trotz Warnungen in Risikoszenarien, weil es offenbar nicht möglich ist, auch nur ein paar Jahre weiter zu denken.
Diesmal ist es die Finanzstabilität. Unsere Finanzpolitik dürfte Dynamiken auslösen, die man dann schwer einfangen kann. Zumindest nicht vor… pic.twitter.com/Gbeqy5qY7W
— Veronika Grimm (@GrimmVeronika) March 9, 2025
Ökonomin: Bevölkerung hätte zum Verzicht aufgerufen werden sollen
Auch die Chefin des Wirtschafts-Gremiums, Monika Schnitzer, kritisierte Teile des Sondierungspapiers. Es sei unverständlich, daß „keine dringend erforderliche Rentenreform vereinbart wurde und daß im Wahlkampf versprochene Ausgabenerhöhungen wie Erhöhung der Mütterrente, der Agrardiesel-Subventionen und Senkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie umgesetzt werden sollen – trotz angespannter Haushaltslage“, sagt Schnitzer der Funke-Mediengruppe.
Besser wäre es gewesen, Union und SPD hätten der Bevölkerung signalisiert, daß alle auf etwas verzichten müßten, wenn mehr Geld in die Verteidigung gesteckt würde. „Dafür wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen“, sagte die Ökonomin. Es bestehe insgesamt keine Garantie, daß das Sondervermögen zusätzliche Investitionen finanziere, statt bestehende Haushaltslücken zu füllen oder Wahlgeschenke zu verteilen.
Union und SPD beschließen Sondervermögen
Union und SPD hatten sich am Wochenende auf ein Sondierungspapier für Koalitionsverhandlungen geeinigt. Dabei entschieden sich beide Parteien unter anderem auf ein Sondervermögen von insgesamt 500 Milliarden Euro, mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Es soll unter anderem der Infrastruktur, dem Bevölkerungsschutz, der Digitalisierung und der Verkehrsinfrastruktur zugute kommen. 100 Milliarden Euro sollen direkt an die Länder und Kommunen fließen.
Die Schuldenbremse wird aufgeweicht, künftig können Länder jährlich eine Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufnehmen. „Darüber hinaus gehende Ausgaben für Verteidigung“ sollen nicht im Kontext der Schuldenbremse aufgerechnet werden. (lb)