ZÜRICH. Der Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, hat sich für einen Wiedereinstieg in die Kernkraft ausgesprochen. Im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung kritisierte er den deutschen Atomausstieg als „historischen Fehler“. Der türkische Energiewissenschaftler leitet die Agentur seit 2015.
Birol warnte vor zunehmenden Herausforderungen bei der Sicherung der Stromversorgung, „sobald der Anteil von Solar- und Windenergie über etwa 50 Prozent steigt“. Der Anteil von Wind- und Solarenergie nehme weltweit zu, sei aber wetterabhängig und erschwere die Netzstabilität.
Zwar entwickele sich die Batteriespeicherung schnell vorwärts, doch eine Energieversorgung müsse weiterhin durch einen Energiemix gewährleistet werden. Neben der Kombination aus Solar und Batterien „wird es Alternativen brauchen: Wasserkraft, Gaskraftwerke, Kernenergie – also verläßliche Erzeugungsformen, die unabhängig vom Wetter funktionieren“.
Putin als maßgeblicher Treiber für die „Renaissance der Kernenergie“
Es gebe mittlerweile ein wiedererstarktes Interesse an Kernkraft, was aus der hohen Nachfrage sogenannter Small Modular Reactors hervorgehe. Diese „könnten ab den 2030er Jahren marktreif sein“, so Birol. Als maßgeblichen Treiber für die „Renaissance der Kernenergie“ nannte der 67jährige den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Die Abhängigkeit vom russischen Gas habe Europa deutlich gemacht, „wie wichtig es ist, bei der Energie auf verschiedene Quellen und Lieferanten zu setzen“. Für die strategischen Fehlentscheidungen der letzten dreißig Jahre bezahle Europa nun den Preis. Diversifikation sei das oberste Gebot in der Energiepolitik, betonte der IEA-Chef. Dies habe der Kontinent mißachtet.
Angesichts der Versäumnisse aus der Vergangenheit bedauerte Birol den sinkenden Anteil der Kernkraft am europäischen Strommix. „Anfang der 1990er Jahre stammte rund ein Drittel“ aus der Kernenergie. „Bald liegt der Anteil bei etwa 15 Prozent – und er sinkt weiter.“ Der IEA-Leiter erhofft sich eine Rückkehr zum „Niveau der 1990er Jahre“ – auch wenn es richtig sei, daß künftig der Großteil des Stromsystems aus Erneuerbaren bestehe.
Birol kritisiert deutsches Kernkraft-Aus scharf
In Ländern wie Frankreich, Schweden und Belgien würden Laufzeiten bestehender Anlagen bereits verlängert. Präsident Macron habe seine kritische Haltung zur Kernkraft inzwischen revidiert und setze nun offen auf ihren Ausbau – „im Inland wie im Ausland“, unterstrich der IEA-Vorsitzende.
Deutliches Unverständnis äußerte Birol mit Blick auf Deutschlands Ausstieg aus der Kernenergie. „Die Kernkraftwerke des Landes liefen zuverlässig wie Schweizer Uhrwerke. Trotzdem ist heute keines mehr davon in Betrieb.“
Statt dessen setze die Bundesregierung auf Wasserstoffimporte aus Namibia – eine politische Entscheidung, die Birol respektiere, aber persönlich ablehne. Lobend erwähnte der IEA-Chef den Vorschlag der Schweizer Regierung, in dem Land das Neubauverbot für Kernkraftwerke aufzuheben.
Energienachfrage nimmt voraussichtlich drastisch zu
Die internationale Nuklearindustrie müsse allerdings verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. Viele Projekte lägen durchschnittlich „sieben Jahre hinter dem ursprünglichen Zeitplan“ und seien überteuert gewesen. Gelinge hier kein Kurswechsel, werde das „Comeback der Kernenergie“ in Europa scheitern.
Birol zeigte sich überzeugt, daß der weltweite Strombedarf drastisch steigen werde. „Ein mittelgroßes Rechenzentrum verbraucht so viel Strom wie 100.000 Haushalte“, betonte der Energiewissenschaftler. Doch nicht nur Elektromobilität und Rechenzentren, sondern vor allem auch die enorme Nachfrage an Klimaanlagen sei für den anstehenden Energiehunger maßgeblich verantwortlich.
In Ländern wie Indien und Nigeria stehe die eigentliche Nachfragewelle noch bevor. Während 90 Prozent der US-amerikanischen und japanischen Haushalte schon über Klimaanlagen verfügten, seien es erst 20 Prozent in Indien und nur fünf Prozent in Nigeria. (rsz)