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Energiepreise, Digitalisierung, Bürokratie: Die deutsche Industrie im freien Fall

Energiepreise, Digitalisierung, Bürokratie: Die deutsche Industrie im freien Fall

Energiepreise, Digitalisierung, Bürokratie: Die deutsche Industrie im freien Fall

Ein Schild mit der Aufschrift „Wir schliessen“ am Schaufenster eines Geschäfts in Magdeburg. Die deutsche Industrie befindet sich aktuell in einer schweren Krise.
Ein Schild mit der Aufschrift „Wir schliessen“ am Schaufenster eines Geschäfts in Magdeburg. Die deutsche Industrie befindet sich aktuell in einer schweren Krise.
Ein Schild mit der Aufschrift „Wir schliessen“ am Schaufenster eines Geschäfts in Magdeburg. Die deutsche Industrie befindet sich aktuell in einer schweren Krise Foto: picture alliance / Zoonar | Heiko Kueverling
Energiepreise, Digitalisierung, Bürokratie
 

Die deutsche Industrie im freien Fall

Die Wirtschaft in der Bundesrepublik ist in einer schweren Krise. Früher weltweit bewundert, heute ein Negativbeispiel. Die Gründe dafür sind hausgemacht – und vermutlich irreparabel.
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Bis vor kurzem war die Einstellung von Briten und Amerikanern zur deutschen Wirtschaft neidvolle Bewunderung. Von den deutschen Autos über den innovativen, technisch herausragenden Mittelstand bis zum konstruktiven Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war für die Angelsachsen alles an der deutschen Wirtschaft gut, schön und vorbildlich. Jahrelang lautete deren Devise: Was die haben, hätten wir auch gerne.

Damit ist es gründlich vorbei. Inzwischen gilt Deutschland der englischsprachigen Wirtschaftspresse als Beispiel dafür, wie es nicht laufen soll. Das amerikanische Wall Street Journal hat der deutschen Wirtschaft kürzlich attestiert, daß sie ihren „Glücksbringer“ verloren habe und es diesen auch so schnell nicht wiederfinden werde. Der britische Economist bescheinigt den Deutschen, daß sie Experten darin wären, sich selbst zu besiegen, und nennt als Beispiel den Ausstieg aus der Atomkraft, den erbärmlichen Zustand der Deutschen Bahn, die vollkommen aus dem Ruder gelaufene Bürokratie und die mangelnde Digitalisierung praktisch aller Behörden.

Die Amerikaner bemängeln die gefährliche Abhängigkeit der deutschen Exporte von einem stetig schwächer werdenden China, die Tatsache, daß die deutschen Autohersteller den Übergang zum Elektroauto verschlafen hätten, und die deutsche Wirtschaft wegen der viel zu hohen Energiepreise international nicht mehr konkurrenzfähig wäre.

Renommierter Fachmann sieht „vollständigen Vertrauensverlust der Wirtschaft in die Politik“

Wer jetzt glaubt, hinter solchen Analysen steckten lediglich Häme und Neid, der täuscht sich – die Probleme sind real und werden auch von wenigen, aber kompetenten Fachleuten hierzulande benannt. Der Banker Folker Hellmeyer, früher für die Bremer Landesbank, jetzt für Netfonds tätig, hält die Lage des deutschen Mittelstands laut Berliner Zeitung für so prekär wie seit den 1970er Jahren nicht mehr. Hellmeyer spricht von einem „vollständigen Vertrauensverlust der Wirtschaft in die Politik“, der „nach übereinstimmender Einschätzung gleichermaßen Regierung wie Opposition umfasse“. 

Inzwischen geht es aber längst nicht mehr darum, daß kleine Läden, Handwerksbetriebe oder Selbständige insolvent werden oder aufgeben, sondern um die Kronjuwelen des deutschen Mittelstandes. Diese Kronjuwelen sind die „Hidden Champions“, die stillen Sterne der deutschen Wirtschaft, die kaum einer kennt, die aber für den Standort Deutschland, für den Industriemix und für den Wohlstand des Landes von enormer Bedeutung sind. Die Hidden Champions – der Ausdruck stammt vom emeritierten Wirtschaftsprofessor Hermann Simon, der das Standardwerk über sie verfaßt hat – sind die heimlichen Weltmeister der deutschen Wirtschaft.

Das sind die Unternehmen, welche zur Hälfte für das deutsche Exportwunder verantwortlich sind, die maßgeblich für Arbeit, Wohlstand und Steuereinnahmen sorgen und bei denen allein in Deutschland 1,5 Millionen Menschen arbeiten, also kaum weniger als bei den deutschen DAX-Konzernen, die jeden Tag in der Presse auftauchen. Der Mittelstand ist der eigentliche Garant des deutschen Wohlstands. Ohne ihn läuft in Deutschland gar nichts. Kleinere und mittlere Unternehmen generieren 40 Prozent aller Umsätze in der Wirtschaft, beschäftigen 60 Prozent aller Arbeiter und bilden 80 Prozent aller Lehrlinge aus. Und natürlich zahlen die Mittelständler von allen Unternehmen auch die meisten Steuern. 

Der Niedergang ist schleichend und irreparabel

So. Und diese Hidden Champions denken nun zum ersten Mal en gros darüber nach, Deutschland zu verlassen. Jeder vierte mittelständische Unternehmer plant, seine Produktion ganz oder teilweise ins Ausland zu verlegen. Ein Beispiel wäre die Hellma Materials GmbH in Jena, die synthetische Kristalle für die Halbleiterherstellung produziert, eine weltweit nachgefragte Spitzentechnologie. Hellma wird wegen der hohen deutschen Strompreise und der Unzuverlässigkeit der Stromversorgung künftig keinen Cent mehr in Deutschland investieren, sondern in Schweden, wo der Strom günstiger und die Versorgung stabiler ist.

Ein anderes Beispiel ist die Wefa Inotec GmbH in Singen am Bodensee, die Werkzeuge zur Herstellung von Aluminium-Profilen produziert, die in der KfZ-Industrie und hier insbesondere bei der Herstellung von Elektroautos zum Einsatz kommen. Wefa ist auf seinem Gebiet Weltmarktführer mit riesigen Zukunftschancen. Aber auch Wefa wird dringend benötigte neue Produktionsanlagen nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz aufbauen, wo die Energie billiger und die Inflation niedriger ist. Zwei Beispiele von vielen.

Das Schlimme an diesem Prozeß ist, daß er a) schleichend vor sich geht und b) unumkehrbar ist. Die Hidden Champions gehen nicht von heute auf morgen weg, sondern über viele Jahre. Irgendwann steht dann nur noch die Zentrale mit der Verwaltung in Deutschland, während die Produktion mit den gutbezahlten Arbeitsplätzen und sehr viel Know-how im Ausland stattfindet. Hat Deutschland den Cluster der Hidden Champions aber einmal verloren, dann ist der für immer weg. Am Schluß sind dann nur noch schwächere Unternehmen da, die sich auf Dauer nicht halten können, und immer mehr Servicebetriebe, sprich Billighandel und Fast-Food-Restaurants, die heute bereits die Innenbezirke großer Städte charakterisieren.

Ohne günstigen Strom stirbt die Industrie

Die massiven staatlichen Hilfen während der Corona-Zeit, die Unternehmen allzu lange gewährte Kurzarbeit, hohe Ersparnisse der Menschen infolge der Corona-Lockdowns und die zehnjährige Nullzinspolitik der EZB haben vielen ein falsches Gefühl der Sicherheit vermittelt und einen wirtschaftlichen Abschwung in Deutschland hinausgezögert. Der wird jetzt aber kommen, und die ersten Anzeichen sind schon da: Deutschland wird in diesem Jahr mit einem Minus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von einem halben Prozent als einziges Land in der EU in die Rezession rutschen, während Spanien und Frankreich beim BIP deutlich zulegen werden und sogar der ewige wirtschaftliche Nachzügler Italien noch ein Plus von fast einem Prozent schaffen wird.

Es gibt ein ganzes Bündel an Gründen für den beginnenden wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands, aber im Zentrum steht die vollkommen verfehlte Energiepolitik der Bundesregierung. Ohne einen international konkurrenzfähigen Strompreis für Industrie und Gewerbe und eine zuverlässige Energieversorgung wird sich die in Deutschland bereits abzeichnende Deindustrialisierung weiter verstärken. Dies wird zu einem empfindlichen Wohlstandsverlust für breite Schichten der Bevölkerung führen und genau die Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung verhindern, die jetzt am nötigsten wären.

JF 38/23

Ein Schild mit der Aufschrift „Wir schliessen“ am Schaufenster eines Geschäfts in Magdeburg. Die deutsche Industrie befindet sich aktuell in einer schweren Krise Foto: picture alliance / Zoonar | Heiko Kueverling
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