Vor elf Jahren hatte Max Otte schon mal ein Buch unter dem Titel „Die Krise hält sich nicht an Regeln“ publiziert und darin 99 Fragen zur damaligen Situation gestellt und beantwortet. Aber seitdem hat sich so viel ereignet, was in dem Buch kommentiert wird – hier sollen nur die Euro-Krise, die Flüchtlingskrise, Brexit, Trump, der rasanten Aufstieg Chinas und Corona genannt werden – daß man das Buch trotz Beibehaltung des Interviewstils als ein neues Werk betrachten kann.
Der 56jährige Westfale ist ein interessanter Mann, der Ökonomie und Politik an der Universität zu Köln sowie der American University in Washington, D.C. studiert und bei Aaron Friedberg an der privaten Princeton University (New Jersey) promoviert hat. Neben der deutschen besitzt er die amerikanische Staatsangehörigkeit. Otte lehrte an Hochschulen in den USA und Österreich, bis 2018 war er BWL-Professor an Fachhochschule Worms. 2003 gründete er ein Institut für Vermögensentwicklung und ist heute als unabhängiger Fondsmanager tätig.
Kritik an der Marktgläubigkeit vieler Ökonomen
Trotz seines akademischen Hintergrundes und der an manchen Stellen sehr gut gelungenen Skizzen von Theorien – dabei denke ich etwa an Mancur Olson zu Interessengruppen und dazu, was die Volkswirtschaften antun, oder an Robert Gilpins Thesen zum Machtwandel und damit verbundener Kriegsgefahr – will Otte nicht Fachwissenschaftler ansprechen, sondern intelligente Menschen, die Wirtschaft und Politik verstehen wollen.
Fachwissenschaftlern im Allgemeinen und Ökonomen im Besonderen, denen er eine zu enge Perspektive und eine ans Religiöse grenzende Marktgläubigkeit vorwirft, steht er mit Distanz gegenüber. Im krassen Gegensatz zum Rezensenten hält er die Unterschiede zwischen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und der Hauptströmung der Ökonomik offenbar für so belanglos, daß der Leser noch nicht mal von der Existenz und erst recht nichts von den politischen Implikationen solcher Unterschiede erfährt.
Konservative Argumente für den sozialen Ausgleich
Interessant ist, daß Otte langjähriges CDU-Mitglied ist und dennoch zweieinhalb Jahre Vorsitzender des Kuratoriums der der AfD-nahen Erasmus-Stiftung war. Obwohl das nahelegt, ihn für einen Konservativen zu halten, hat er in der Vergangenheit mehrfach auch schon Positionen der Sozialdemokratie vertreten. Der soziale Ausgleich ist ihm wichtig, er plädiert für Steuererhöhungen für Besserverdiener (wie ihn selbst) und die steuerliche Belastung von Finanztransaktionen, die einem Fondsmanager nur das Leben erschweren kann.
Hohe Renditen beim Eigenkapital sind für ihn nicht unbedingt erfreulich, sondern allzu oft Indikator für Marktmacht und unzureichenden Wettbewerb. Der von ihm diagnostizierte Niedergang der Mittelschicht beunruhigt ihn mehr als die Sorge um sein eigenes finanzielles Wohl und das seiner vermutlich nicht gerade armen Kunden. Die westlichen Demokratien stehen nach Otte gleichzeitig vor einer Vielzahl von Herausforderungen. Weder von der Finanzkrise, noch von der Eurokrise haben wir uns wirklich erholt, wie die vielerorts schon vor Corona und erst recht seitdem dynamisch steigenden Schulden bezeugen.
Kritik an der Euro-Rettung und der Globalisierung
Mit der Euro-Rettung haben wir weder Griechenland noch andere Südländer gerettet, wie die Wohlstandsverluste und die furchtbare Jugendarbeitslosigkeit dort zeigen, als vielmehr die Gläubiger der Südländer. Nach Otte scheint die Globalisierung vor allem China und der obersten Einkommensschicht im Westen geholfen zu haben, der Masse der Arbeitnehmer das aber eher geschadet. Zur zunehmenden Ungleichheit im Westen könnte zwar auch die technologische Entwicklung wesentlich beigetragen haben, aber Otte macht die Globalisierung dafür verantwortlich.
Selbst Freihandel im Westen steht Otte mit Distanz gegenüber.
Das Scheitern des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP hält er für ein Glück. Die Corona-Pandemie ist für Otte ein Krisenbeschleuniger. Daß in der Corona-Krise die Schulden steigen, ist für Otte unvermeidbar, aber er bezweifelt, ob der Westen da wieder rauskommt. Obwohl Inflation nicht der einzige Ausweg für überschuldete Regierungen ist, hält Otte ein Ansteigen der Inflation für wahrscheinlich. In einem inflationären Umfeld ist es besser, Schuldner als Gläubiger zu sein, sollten Investoren auf Sachwerte setzen, wie Land, Gold oder Aktien. Von einer Euro-Transferunion verspricht sich Otte nichts Gutes: keine Lösung des südeuropäischen Schuldenproblems, sondern eher gemeinsamer Niedergang.
Otte hebt (auf Seite 148) durch prägnante Formulierungen oft übersehene Effekte der internationalen Einbindung Deutschlands hervor: „Die Nato sorgt dafür, daß wir militärisch nicht unsere eigenen Entscheidungen treffen, die EU sorgt auf dem ökonomischen Bereich dafür.“ Zu der Frage, die sich dem Rezensenten aufdrängt, ob das gut oder schlecht ist, findet man allerdings keine Antwort.
Das Buch ist der lesbare Versuch eines gut informierten Mannes, sich einen Überblick über die Weltlage zu verschaffen. Als Einladung an den Leser, darüber nachzudenken, ist es empfehlenswert. Dem Rezensenten fällt beim Mitdenken eine gewisse Spannung zwischen der sehr negativen Beurteilung der herrschenden Politiker in Deutschland und dem Plädoyer für mehr Marktordnung durch die Politik auf. Mit dieser Bundesregierung oder der vielleicht schwarz-grünen Nachfolgeregierung?
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Prof. Dr. Erich Weede lehrte Soziologie an den Universitäten Köln, Bologna und Bonn. 1998 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich-A.-von-Hayek-Gesellschaft.
Max Otte: Die Krise hält sich nicht an Regeln. 99 Antworten auf die wichtigsten Fragen nach dem Corona-Crash. FinanzBuch Verlag, München 2021, gebunden 255 Seiten, 20 Euro.