Presse, Radio und Fernsehen haben wieder einmal die Insel Rügen für sich entdeckt. Nach einer „Ölpest vor Rügen“ (2004), Kreideabbrüchen („Rügen bröckelt“ 2005), nun also das „Todesvirus auf Rügen“. Abbrüche an der Steilküste gehören für die Rüganer im Februar und März zur Normalität, ebenso ist es mit dem Verenden von Vögeln. Hunderte sind jährlich betroffen, teils durch Entkräftung oder Nahrungsmangel. Dieses Jahr wurde die zerstörerische Wirkung der Natur durch den Abfall der Temperaturen auf bis zu 20 Grad unter Null zusätzlich verstärkt. Doch seit 16. Februar ist es nun offiziell: Die zuvor von Urlaubern auf der Ostseeinsel gefundenen toten Schwäne verendeten am Vogelgrippevirus H5N1/Asia. Daß der auf den Menschen nur bei direktem Kontakt übertragbare Erreger zuerst auf der größten deutschen Insel nachgewiesen wurde, überrascht nicht. Die Gewässer um Rügen und die benachbarte Insel Hiddensee unterlagen als Rast- und Mauserquartier von Wasservögeln und Kranichen von Anfang an einer höheren Gefährdung. Hier kreuzen sich die Flugrouten des Baltikums mit denen Afrikas. Rügensche Bodden Rastplatz für 100.000 Wasservögel Alljährlich sind die Rügenschen Bodden Rastplatz für etwa 100.000 Wasservögel. Die 1931 durch die Universität Greifswald auf Hiddensee errichtete Vogelwarte spricht in diesem Zusammenhang von 18.000 Graugänsen, 50.000 Pfeifenenten, 30.000 Reiherenten und 40.000 Kranichen. Im Februar/März überqueren schätzungsweise drei Millionen Vögel, die etwa 120 Arten angehören, die Rügenschen Bodden. Dabei handelt es sich um Wildvögel. Die Ausbreitung des Erregers wird sich daher entsprechend der Flugrouten auf dem Festland fortsetzen. Schon am 19. Februar wurde ein verendeter Bussard aus Ostvorpommern und eine tote Silbermöwe aus Nordvorpommern positiv getestet. Am 24. Februar wird bei zwei Wildenten aus den Ostseebädern Neustadt und Timmendorfer Strand und bei zwei toten Vögeln im Landkreis Uckermark der Erreger H5N1 nachgewiesen. Am 25. Februar teilt das baden-württembergische Agrarministerium mit, daß die am Bodensee gefundene Tafelente das Virus H5N1/Asia in sich trug. Daß am 18. Februar für Rügen und am 20. Februar an der gesamten Küste Vorpommerns der Katastrophenalarm ausgelöst wurde, hat vor allem einen juristischen Grund: Nur so konnte die Bundeswehr mit ihren ABC-Kräften den Rüganern beim Einsammeln der Tierkadaver und der Seuchenprävention helfen. Der Flug der Zugvögel konnte natürlich nicht beeinflußt werden. Hingegen ist der Besuch von diversen Landes- und Bundespolitikern und sogar von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor allem politisches Marketing. Alle Maßnahmen, die derzeit in Deutschland und anderen betroffenen EU-Ländern vorgenommen werden, dienen vor allem der Vorsorge zur Verhinderung einer Infektion von Nutztieren. Rügen ist hierbei nun unfreiwilliger Vorreiter geworden. Innerhalb der Sperrbezirke wurde ein Handels- und Transportverbot für Tiere durchgesetzt und auf Rügen erfolgten Schutzmaßnahmen für alle Bauernhöfe. Außerdem wurde mit der Keulung von Tausenden von Tieren auf Rügen begonnen. Der Gesamtbestand an Geflügel belief sich davor auf etwa 400.000 Tiere, die auf 796 Geflügelhaltungen entfallen. Als problematisch erweist sich die föderale Zuständigkeitsstruktur in Deutschland. Alle Maßnahmen können nur durch die Landkreise eingeleitet werden. Sie tragen für alle getroffenen Maßnahmen die alleinige Verantwortung. Der Landwirtschaftsminister Mecklenburg-Vorpommerns, Till Backhaus (SPD), hat zwar die Fachaufsicht, darf aber lediglich (wie auch der Bundesverbraucherschutzminister Horst Seehofer) Empfehlungen aussprechen. Backhaus „empfahl“ daher der Rügener Landrätin Kerstin Kassner (PDS), den „Katastrophenalarm“ auszurufen. Der wurde am Sonntag vor zwei Wochen, nach dem Besuch Merkels, ausgerufen. Am Montag wurde der „Katastrophenfall“ auch durch die Landkreise Nordvorpommern und Ostvorpommern ausgerufen. Das anfängliche Zögern Kassners hatte zwei Ursachen. Zum einen war die Gefahr für Leib und Leben eigentlich nicht gegeben – sie ist eine Bedingung für die Ausrufung. Zum anderen sind damit unkalkulierbare Kosten verbunden. Der Blick nach Bayern, wo extreme Schneefälle im Februar zahlreiche Dächer zum Einsturz brachten, gibt in diesem Falle Aufschluß: In der Regel helfen hier (wie auch auf der Insel Rügen) die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr. Die Arbeitgeber der Helfer können sich aber (mit Ausrufung des Katastrophenfalls) das Arbeitsentgelt von der Verwaltung erstatten lassen. Ähnliches gilt für die Spezialkräfte der Bundeswehr. Auch hierfür muß das „Katastrophengebiet“ aufkommen. Ob nun die Ausrufung des „Katastrophenfalls“ für Rügen mit Zugeständnissen durch die Bundeskanzlerin in Bezug auf die Kostenübernahme in Verbindung stehen, darf angenommen werden. Die Rüganer, die zum Großteil vom Fremdenverkehr leben, sind trotz allem nun stocksauer – vor allem auf die Medien. Seit Jahren verhageln sie mit ihrer Berichterstattung den Sommer, denn ausgerechnet im Frühjahr, wenn die Urlauber ihre Quartiere buchen, kamen die „Katastrophen“-Meldungen. Das führte schon in den vergangenen Jahren zu massiven Umsatzeinbrüchen im Tourismus. Nun kommen die Anrufe schon, ob man überhaupt noch nach Rügen fahren kann. Dem Bodensee droht möglicherweise ähnliches. Doch die Vogelgrippe ist bislang noch eine Tierseuche. Die Wahrscheinlichkeit, sich mit H5N1 zu infizieren, ist extrem gering und nur bei engstem Kontakt mit infizierten Tieren möglich. Es ist derzeit immer noch wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden. In Asien geschah die Übertragung meist beim Schlachten infizierter Vögel oder durch den Verzehr roher Tierprodukte. Das Virus wird weder über die Luft noch durch Wasser übertragen. Die größte Gefahr besteht momentan im Übergreifen auf die besonders anfälligen Nutztierbestände – allerdings nicht nur auf Rügen. Foto: Spezialkräfte sammeln Vogelkadaver am Strand von Rügen: Ausrufung des Katastrophenfalls