Mehrere führende Unionspolitiker haben letzten Monat mit ihrem Plädoyer für eine Renaissance der Kernenergie für Wirbel gesorgt. Unions-Fraktionsvize Friedrich Merz forderte, den Atomausstieg rückgängig zu machen und gegebenenfalls neue Kernkraftwerke zu bauen. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch meinte, ohne Atomenergie werde Deutschland „die nächsten 30 bis 40 Jahre nicht auskommen“. SPD und Grüne warfen der Opposition daraufhin „fahrlässige Ignoranz“ vor. Die Sicherheitsfrage der „Risiko-Technologie“ habe sich durch den globalen Terrorismus zudem verschärft. Und der rot-grüne Anti-Atomkurs scheint in Deutschland mehrheitsfähig zu sein. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage für den Stern sind nur 30 Prozent für Kernkraftwerke. Für einen allmählichen Verzicht auf die Atomenergie sprachen sich hingegen 47 Prozent der Befragten aus, 18 Prozent wollen sogar so schnell wie möglich aussteigen. Im Nachbarland Frankreich sieht das hingegen ganz anders aus. Die Atomenergie wird dort von beiden großen politischen Lagern gefördert – egal, ob gerade Bürgerliche oder Sozialisten regieren. „Wir müssen dafür sorgen, daß unser Land über Energien verfügt, die die Umwelt schonen, allen zugänglich sind und unsere nationale Unabhängigkeit bewahren“, faßte die damalige französische Industrieministerin Nicole Fontaine am 5. Februar 2003 in ihrer Ansprache vor dem Senat die Politik ihrer Regierung in der Atomkraftfrage zusammen. Zudem ist das Land militärische Atommacht. Ein ziviler Atomausstieg wird daher allenfalls bei den Grünen ernsthaft diskutiert. Dank seiner international anerkannten Atomtechnologie und der Leistungen in der Forschung hat sich Frankreich auf diesem Sektor zum weltweiten Marktführer entwickelt. Und insbesondere die neuen EU-Mitgliedsstaaten werden Hilfe benötigen, um ihre veralteten Reaktoren zu erneuern. Der Export von Strom, Atomtechnologie und entsprechenden Dienstleistungen bringt Frankreich Einnahmen von drei bis 4,5 Milliarden Euro im Jahr. Zudem wird durch die Nutzung der Atomkraft der Import fossiler Brennstoffe wie Erdgas, Erdöl und Kohle im Umfang von etwa sechs Milliarden Euro vermieden. Ausgerechnet der Umweltschutz ist eines der stärksten Argumente der französischen Regierung, weiterhin auf Atomkraft zu setzen. Das mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen; jedoch entstehen die hauptsächlich für die Erderwärmung verantwortlichen Treibhausgase bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe, nicht aber bei der Uranspaltung. Die Förderung der Atomindustrie hilft zudem, die Forderungen des Kyoto-Protokolls von 1997 zu erfüllen, die Emission von Treibhausgasen erheblich zu reduzieren. Konkret bedeutet dies eine Senkung um jährlich 300 Millionen Tonnen Kohlendioxid – dies entspricht der Hälfte aller Emissionen, die in der EU durch Autoabgase entstehen. Die Explosion der Erdölpreise und die damit verbundene wachsende Abhängigkeit von instabilen Ölländern verstärkt das politische Interesse an der Atomkraft noch. Daß die französische Regierung viel Wert auf ihre „nationale Unabhängigkeit“ legt, ist allgemein bekannt. Die Atomindustrie stellt außerdem mehrere hunderttausend Arbeitsplätze auf französischem Boden, die meisten davon bei dem Stromkonzern EdF (Électricité de France), dessen geplante Teilprivatisierung in jüngster Zeit eine Streikwelle mit vielfachen Stromausfällen provoziert hat. Ein weiteres nicht zu vernachlässigendes Argument verdeutlicht, warum die Kernenergie in Frankreich nach wie vor ein solcher Glanz anhaftet, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist die Kernindustrie ein attraktiver Standortfaktor für Unternehmen, die auf zuverlässige Stromversorgung angewiesen sind. Zum anderen profitieren auch andere Sektoren wie beispielsweise die Medizin von der auf diesem Gebiet betriebenen Forschung und Entwicklung. Aus all diesen Gründen bezieht Frankreich etwa drei Viertel seines Strombedarfs aus seinen 59 Atommeilern – die in den kommenden Jahren modernisiert bzw. sogar neu errichtet werden.