Ein Volk, ein Reich, ein Führer: Diesen Wunschtraum aller Diktatoren der Zwischenkriegszeit konnte auch Kemal Atatürk nicht verwirklichen, nachdem er aus den Trümmern des Osmanischen Reiches die moderne Türkei geschmiedet hatte. Und heute zeigt sich diese moderne Türkei zerrissen in ethnische und religiöse Gruppen, die sich mehr oder weniger erbittert bekämpfen und im besten Fall beziehungslos nebeneinanderherleben. Als ethnische Gruppen werden im allgemeinen nur Osmanen und Kurden wahrgenommen – als zutiefst verfeindete Völker mit unterschiedlicher Rassenzugehörigkeit und unterschiedlicher Sprache – während die zahlreichen Splittergruppen wie Turkmenen, Tscherkessen, Tataren, Lasen, Armenier, Griechen und Araber nur noch „Landeskennern“ geläufig sind. Ähnlich ist es mit der religiösen Zerrissenheit: Die Vorstellung von einer homogen sunnitisch islamischen Türkei mit 99 bis 99,5 Prozent Muslimen und gerade noch überlebenden unterschiedlichen christlichen Splittergruppen, einem jüdischen Rest und einigen Jeziden aus der altiranischen Religion ist allzu oberflächlich. Denn diese 99 bis 99,5 Prozent zerfallen in etwa 60 Prozent Anhänger des türkisch-sunnitischen Staatsislam, etwa 10 Prozent Kemalisten, die nach deutschen Vorstellungen bestenfalls als gottgläubig, zutreffender aber wohl eher als atheistisch oder agnostisch zu bezeichnen sind, und etwa 30 Prozent Aleviten, die von islamischen Hochschullehrern sowohl in der Türkei wie auch in Deutschland als „Ketzer“ und „Nicht-Muslime“ bezeichnet werden. Klein- und Kleinstgruppen von Schiiten unterschiedlicher Denominationen spielen dann keine Rolle mehr. Bis zu 800.000 Aleviten leben in Deutschland Wer sind nun diese Aleviten, deren Zahl in Deutschland mit 600.000 bis 800.000 angegeben wird, die etwa ein Drittel oder mehr aller „türkischstämmigen“ Migranten ausmachen und die seit vier Jahren in Deutschland als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt sind? Diese Anerkennung hat auch darin ihren Ausdruck gefunden, daß es ab Herbst 2008 voneinander unabhängig an Schulen einen „islamischen“ und einen „alevitischen“ Religionsunterricht geben wird. Denn alevitische Eltern sahen es als unzumutbar an, daß ihre Kinder bei Schulversuchen mit einem einheitlichen islamischen Unterricht drangsaliert und gemobbt wurden, und ließen ihre Kinder dann teilweise lieber am evangelischen Religionsunterricht teilnehmen. Die alevitische Religion ist – und wird so auch von ihren Protagonisten verstanden – eine synkretistische Religion, deren Glaubenslehre sich aus sehr unterschiedlichen Wurzeln herleitet: Einflüsse des Volksislam und des mystischen Islam sind darin ebenso zu finden wie Einflüsse aus anatolischem Christentum, altiranischem Glauben, Buddhismus, manichäischer Religion und jenem asiatischen Schamanismus, der der ursprüngliche türkische Glaube war, bevor sich die aus Asien gekommenen Türken zum sunnitischen Islam bekehren ließen. Der alevitische Pan-en-theismus, dem zufolge in Ergänzung zu einem persönlich gedachten Gott auch in der Natur Göttliches zu finden ist, ist ebenso eigenständiges Glaubensgut wie eine sehr spezielle Art von trinitarischer Betrachtungsweise einer Göttlichkeit/Heiligkeit, die den drei Wesenheiten Allah/Hak, dem Propheten Mohammad und seinem Schwiegersohn und Neffen Ali gemeinsam ist. Besondere Verehrung wird letzterem gezollt. Auch die alevitischen Vorstellungen von Tod und Wiedergeburt haben nichts gemeinsam mit islamischen oder christlichen Vorstellungen. In ihrem Verzicht auf Gerichtsandrohungen sind diese Vorstellungen ungewöhnlich und leiten über zu jener Ethik, die die Lebensgestaltung und das soziale Leben der Aleviten bestimmt. Diese wiederum zeigt erstaunliche Gemeinsamkeiten zu dem, was im Neuen Testament berichtet wird über das Miteinander in den ersten christlichen Gemeinden. Gemeinsame Gottesdienste von Frauen und Männern Dazu gehört – im entschiedenen Gegensatz zu islamischen Vorstellungen – auch die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau im Alltag ebenso wie in Gottesdiensten. Und ein entschiedenes Nein zu allen Diskriminierungen, wie sie der Islam im Koran ebenso kennt wie in der Scharia. Aleviten lehnen die Scharia ebenso entschieden ab wie jede Form von Verschleierung und selbst das Kopftuch-tragen. Ein Beschluß des Vorstandes der Aleviten richtet sich in aller Entschiedenheit auch gegen jenes Kopftuchtragen von muslimischen Lehrerinnen an deutschen Schulen, mit dessen Ablehnung sich selbst deutsche Richter und Geistliche schwertun. Aleviten kennen weder das Ramadan-Fasten – sie haben ihre eigene Fastenzeit – noch Moscheen. Wo sie es sich leisten können, haben sie eigene Gebetshäuser, die in ihren sozialen Funktionen etwa mit christlichen Gemeindezentren vergleichbar sind. Die Aleviten – die sich in Deutschland in ihrer Masse zu der Alevitischen Gemeinde Deutschland (AABF) mit einer Zentrale in Köln zusammengeschlossen haben – sind gezeichnet durch eine leidvolle Geschichte der Unterdrückung und oft genug blutigen Verfolgung im Osmanischen Reich. So ist von dem türkischen Sultan Soliman dem Prächtigen, unter dem der erste Vorstoß auf Wien (1529) stattfand, der Ausspruch überliefert: „Der abgeschlagene Kopf eines Aleviten ist mir mehr wert als zwei abgeschlagene Köpfe von Christen!“ Die Ausbildung der alevitischen Religion beginnt schon im frühen 13. Jahrhundert, als ihr großer Lehrer Hadschi Bektas Veli aus Zentralasien nach Ost-anatolien kam. In dieser Zeit und in den nachfolgenden Jahrzehnten wird diese Religion zugleich eine soziale Bewegung der unterdrückten Landbevölkerung und schon als solche mit dem Odium der Aufrührer versehen und bekämpft.Vor allem die Tatsache, daß Männer und Frauen gemeinsam Gottesdienste feiern, zu denen ein „Versöhnungsmahl“ gehört, bei dem auch Wein getrunken werden darf, führt dann dazu, daß die Sunniten den alevitischen Gottesdiensten den Charakter von Orgien unterstellen – mit sexuellen Ausschweifungen bis hin zu Inzest-Vorwürfen. Derartige Vorwürfe reizten die Phantasie und wurden dann immer wieder instrumentalisiert, um Pogrome gegen die Aleviten als Ketzer und Abtrünnige vom Islam vom Zaun zu brechen. Aufgrund solcher Unterstellungen werden bis in unsere Tage immer wieder Aleviten verfolgt und umgebracht. Die Aleviten hatten gehofft, daß mit dem Beginn der modernen Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk (1920 bis 1938) die Zeit der Verfolgungen und Diskriminierungen vorbei sein würde. Die hohen Erwartungen, die sie dem Vater aller Türken entgegenbrachten, sollten sich dann aber auch nicht erfüllen. Nach Atatürks Tod und mit dem Beginn der schleichenden Re-Islamisierung der Türkei kam es vielmehr wieder zu dem alten Zustand von Diskriminierung und Verfolgung. Was Religionsfreiheit in Wirklichkeit heißt, wurde dann erst für die Aleviten erlebbar, die ab den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Keine Berührungspunkte mit den schiitischen Alawiten In diesem Jahr feiert die Alevitische Gemeinde in Deutschland nun das 20jährige Jubiläum des ersten alevitischen Zusammenschlusses. Und man kann sagen: Die Aleviten haben sich derweil soweit diesem Staat und seiner Gesellschaft zugewandt, daß ihr Generalsekretär Ali Ertan Toprak bei der alevitischen Großdemonstration in Köln im Dezember 2007 vor 25.000 begeistert applaudierenden Zuhörern nach einem entschiedenen Bekenntnis zum Grundgesetz ausrief: „Wir Aleviten sind, um es einmal deutlich zu machen, gegen die schleichende Islamisierung Deutschlands und der westlichen Zivilisation.“ So sind die Aleviten in Deutschland angekommen als eine eigenständige Volksgruppe und Glaubensgemeinschaft, die ihren Platz im Wertekonsens dieses Landes gefunden hat. Kein Wunder, denn die türkischstämmigen Angehörigen sind Teil einer eigenständigen Religion, die entschieden „anders“ ist als der türkisch-sunnitische Staatsislam, die sich besonders durch die völlige Gleichberechtigung der Frau und durch sehr hohe ethische Standards auszeichnet. Deswegen haben Aleviten auch kaum Probleme mit der Integration in die deutsche Gesellschaft und in das deutsche Bildungssystem. So ist es auch kein Zufall, daß der Anteil von Aleviten, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, viel höher ist als der der türkischstämmigen Muslime. Auch und gerade vor diesem Hintergrund ist es angemessen, nicht mehr pauschal von „Türken“, „Menschen mit türkischem Migrationshintergrund“ zu sprechen, sondern Sensibilität zu zeigen. Anzumerken bleibt, daß es aufgrund der sehr ähnlich klingenden Bezeichnung einer islamischen Glaubensgemeinschaft, die zu der schiitischen Konfession des Islam gehört, zu Verwirrungen kommen kann: „Alawiten“ sind eine schiitische Religionsgemeinschaft, die in Syrien die Regierung stellt und von der zudem einige isolierte Gruppen im äußersten Süden der Türkei leben. Selbst die Verfasser von Lexika und Handbüchern tun sich oft sehr schwer damit, diese Unterscheidung herauszuarbeiten. Stichwort: Alevitische Gemeinde Deutschlands Die Alevitische Gemeinde Deutschland e. V. (AABF) ist der Dachverband der über 100 Gemeinden in Deutschland. In dieser Rolle stand der AABF in den letzten Wochen verstärkt im Fokus der Medien, da die Opfer der Brandkatastrophe in Ludwigshafen Aleviten waren. Also erhob Generalsekretär Ali Ertan Toprak das Wort, zeigte sich besorgt über Stimmungsmache in den türkischen Medien, geißelte den „triumphierenden“ Auftritt Erdogans in Köln, verwies auf die immer noch nicht aufgeklärten Brandanschläge auf Aleviten in Sivas (1993), bei denen 37 Menschen starben, und erklärte den türkischen Ermittlern, sie sollten doch „lieber ihre Energie in die Aufklärung der Tausenden politischen Morde in der Türkei stecken. Die Hintergründe der Attentate auf den Journalisten Hrant Dink, die Christenmorde in einem türkischen Bibelverein, die Morde an katholischen Priestern in der Türkei sind bis heute nicht zufriedenstellend aufgeklärt.“ Foto: Aleviten-Demonstration in Frankfurt/Main (26. Mai 2001): Seit Jahr und Tag der Kampf für die Religionsfreiheit in der Türkei