Fremde Erfahrungen ritzen die Haut, eigene Erfahrungen schneiden ins Fleisch. Man schreibt diesen Satz Napoleon zu. Wenn dieser Ausspruch zutreffen sollte, dann müßte Scholl-Latour heute mit Narben regelrecht übersät sein.
Nach erfolgreichem Abitur 1943 und dem Kriegsende entschließt sich der gerade Zwanzigjährige zum Eintritt in die französische Armee. Das Commando Parachutist Ponchardier wird für zwei Jahre seine militärische Heimat, eine Fallschirmjägerspezialeinheit. Was treibt einen jungen Mann dazu, mit einem Fallschirm auf dem Rücken, aus tausend Meter Höhe kopfüber in die stockdunkle Nacht zu springen? Wie erträgt er die Ungewißheit, was ihn — er war ja im scharfen Krieg — nach der Landung am Boden erwartet? Sogenannte „Normalsterbliche“ werden dies nicht verstehen. Dies nachzuvollziehen, dazu gehört ein gehöriges Maß an Unnormalität. „Au delà du possible — über das Mögliche hinaus“ lautete einst die Inschrift auf der Fahne des Eliteregiments, in dem Scholl-Latour diente.
Neugierde und eine archaische Lust am Unbekannten, Mut, Härte gegen sich selbst, Professionalität und Perfektion des eigenen Handwerks sind herausragende Eigenschaften des jungen und alten Scholl-Latour.
Aber, um eine wirkliche Größe zu werden, reichen sie nicht aus.
Nicht beim Journalisten Scholl-Latour und nicht beim Soldaten. In der Duologie der zwei Romane „Les Pretoriens“ und „Les Centurios“ von Jean Lartegue steht die Figur eines französischen Fallschirmjäger-Offiziers im Mittelpunkt: Colonel Raspeguy. Erlauben Sie mir, hieraus zu zitieren: Zwei Generäle — einer typischer Bürokrat aus dem Ministerium in Paris, der andere ein echter Troupier — unterhalten sich über Rasepguy, diesen in Indochina und Algerien erfolgreichen und hochdekorierten Helden und Haudegen. Zunächst der Bürokrat: „Ich habe über Raspeguy viel nachgedacht; über dieses Tier mit Orden, diesen Fachmann in der Bewegung im Gelände, schlau wie ein Fuchs, ein Mensch, der seine Männer behandelt wie seine eigenen Söhne und gleichzeitig doch ein archaisches Tier ist. Für eine moderne Armee viel zu gefährlich. Wenn man mich fragte, ich würde ihn nie zum General machen. Was hätte wohl ein Napoleon mit ihm gemacht? Der Troupier antwortet: „Er hätte wohl einen Marschall aus ihm gemacht.“ Napoleon glaubt an das Schicksal, an das Glück. Bevor er einen Oberst zum General macht, fragt er stets: „Hat er Fortune?“
Fortune — bei den alten Griechen finden wir die beiden Götter Chronos, den Gott der Zeit, und Chairos, den Gott der rechten Gelegenheit. Um ein wirklich ganz Großer zu werden, bedarf es der Hilfe des Gottes Chairos, der dem Tüchtigen zum richtigen Zeitpunkt die Hand reicht. Mindestens zweimal in seinem Journalistenleben reichte Chairos Scholl-Latour die Hand. 1973 gerät er in die Hände der Vietkong, wird ihr Gefangener. Er gewinnt ihr Vertrauen, darf während der Gefangenschaft filmen, und dieser Film wird zu einem Welterfolg.
Im Februar 1979 besteigt Scholl-Latour in Paris ein Flugzeug, das einen Mann aus seinem Exil in die Heimat zurückbringt, der kurz darauf Weltgeschichte schreiben wird. Und Scholl-Latour gelingt es, während dieses Fluges als einziger westlicher Journalist mit diesem Mann, dem iranischen Revolutionsführer Ajatollah Khomeini, ein Interview zu führen. Dieses Gespräch macht ihn endgültig zu einem journalistischen Titanen.
Sieben Jahre später habe ich ihn im brütend heißen Sommer 1986 auf meinem eigenen Terrain, im pakistanischen Peschawar, damals Zentrum des afghanischen Widerstands gegen die sowjetischen Besatzer, erleben dürfen.
Wir saßen zusammen mit Gerhard Löwenthal in der Villa des damaligen deutschen Konsuls und diskutierten. Wenige Tage später war Scholl-Latour Gast in unserem Haus. Wir lauschten stundenlang den Erzählungen aus seinen Reisen. Als Scholl-Latour uns dann zu früher Morgenstunde verlassen mußte, wurde ein Unteroffizier, ein bis dahin schweigsamer, urbayerischer Hauptfeldwebel, plötzlich gesprächig und hat eine Laudatio formuliert, die in ihrer Klarheit und Knappheit ihresgleichen sucht: „Herr Oberfeldarzt, oans mues e eana soagn: der Scholl-Latour heit auf dNacht, des is a echter, wuider Hund!“
Schon der normale Hund, der Haushund, lateinisch Canis canis — bezogen auf den Menschen — ist im Bayerischen, mit Ausnahme des „Windhundes“, Ausdruck hoher Anerkennung. Der Ausdruck „Wilder Hund“ — lateinisch eher Canis lupus — steht für höchste Anerkennung.
Nun hat sich der Hauptfeldwebel sicher keine Gedanken machen können, wie richtig er mit dem Begriff „Wilder Hund“ bei Scholl-Latour tatsächlich gelegen war.
Das absolute Gegenteil zum „Wilden Hund“ ist der „Windhund“. Der Ausdruck „Windhund“ für einen Mann ist im Bayerischen eindeutig negativ belegt: er steht für weibisch-elegant, stets frisch gefönt und dezent parfümiert, sein Geruchssinn ist verkümmert, er hält Abstand zu Schmutz und Straßenkötern, fühlt sich am wohlsten im warmen Wohnzimmer und wird im Freien von Frauchen und Herrchen stets an der Leine geführt. Bezogen auf den Journalisten würde „Windhund“ bedeuten: ängstlich und vorsichtig, politisch geschmeidig und korrekt, gehorsam gegenüber Chefredakteur und Intendant, fühlt sich am wohlsten in der warmen Redaktionsstube.
Der „Wilde Hund“ dagegen ist ein nicht zu domestizierender Streuner, der sich im dicksten Dreck wohlfühlt, er ist neugierig, mutig und rauflustig, geht keiner Auseinandersetzung auch mit vermeintlich Stärkeren aus dem Weg. Wenn er eine Spur wittert, läßt er nicht locker, sondern verfolgt sie, wenn nötig, stunden- und tagelang; sein Geruchssinn ist archaisch.
Die Übersetzung auf den Journalisten darf ich mir ersparen. Erlauben Sie mir, auf Scholl-Latour den alten lateinischen Glückwunsch auszusprechen: Ad multos annos, ad multos libros.
Foto: Reinhard Erös: „Au delà du possible — über das Mögliche hinaus“