Seit Wochen opponiert Polen gegen die neue qualifizierte Mehrheit im Rat der Europäischen Union (EU). Dabei geht es um „eine Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der Union ausmachen“. Für eine Sperrminorität sind allerdings „mindestens vier Mitglieder des Rates erforderlich“, die etwa 170 Millionen Menschen aus vier Mitgliedstaaten repräsentieren müssen. In Deutschland und Frankreich leben zusammen etwa 142 Millionen Menschen. Für die Sperrminorität bedarf es somit nur noch 28 Millionen weiterer EU-Bürger. Die Stimmen aus Polen oder Spanien, Italien oder Großbritannien, aber auch aus zwei oder drei kleineren Mitgliedstaaten genügen, um ein Gesetz zu verhindern. Ohne Deutschland ist die Sperrminorität nur schwer zu erreichen. Aber die südeuropäischen Mitgliedstaaten, Frankreich eingeschlossen, hätten sie ohne weiteres. Auch Großbritannien oder Italien können sie erreichen, etwa mit Polen und/oder Spanien und weiteren Mitgliedstaaten. Für die kleineren und kleinen Mitgliedstaaten ist es dagegen so gut wie ausgeschlossen, die Sperrminorität zustande zu bringen. Dieses Machtgefüge entspricht nicht der völkerrechtlichen Gleichheit aller Staaten. Bundesstaaten wie die EU sind eben keine Staatenbünde, und genau hierin liegt das Problem. (Auch in Deutschland sind die Länder nicht gleichberechtigt. Ihr politisches Gewicht im Bundesrat, aber auch im Bundestag ist sehr unterschiedlich.) Doch geht es im gegenwärtigen Streit in der EU nicht um mehr Demokratie, sondern um Macht, die die großen Mitgliedstaaten nicht an die vielen kleineren und kleinen abgeben wollen, zumal zu diesen auch die Armutsländer gehören. Wenn die EU so organisiert bleibt wie sie ist, ist das Demokratiedefizit unüberwindbar. Die Opposition der Polen ist vom Prinzip der Selbstbestimmung und Gleichheit der Völker getragen, das der Integration zum existentiellen Staat, die die EU betreibt, entgegensteht. Zur Demokratisierung der EU führt die neue qualifizierte Mehrheit im Rat nicht. Die Entmachtung zumal der großen Völker, insbesondere Deutschlands, durch die europäische Integration wiegt schwerer und ist demokratierechtlich nicht hinnehmbar. Die Opposition gegen die Fehlentwicklung der EU verbindet sich mit den polnischen Ressentiments gegen den großen Nachbarn, der seine Macht durch die Sperrminorität stärkt. Diese Rechtlosigkeit hat ihre Ursache in der von Deutschland vorangetriebenen Integrationspolitik. Die Einheit Europas ist auch möglich, ohne Freiheit, Demokratie und Recht zu ruinieren, freilich nicht, wenn Parteienoligarchien, von der Industrie korrumpiert, die Macht haben. Im aktuellen Streit hat Polen die besseren Argumente; denn für die geplante qualifizierte Mehrheit läßt sich ein Rechtsprinzip nicht finden. Sie ist reine Machtpolitik. Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider lehrt Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg.