Ein gekachelter Klinikraum, ein Kind kommt zur Welt, es lebt, schreit. Doch niemand freut sich. Krankenschwestern kommen, hüllen das 690 Gramm schwere Frühchen grob in Decken und legen es in einem Nebenraum ab. In der Hoffnung, daß es bald sterbe. Ab und zu gucken Ärzte, ob es schon tot ist. Das Kind ist schwerbehindert. Durch Medikamente, die seine Zwangsgeburt künstlich eingeleitet haben, ist es geschädigt, braucht dringend helfende Hände, die es medizinisch versorgen. Doch der Säugling wird weiter liegengelassen, unversorgt. Stunde um Stunde. Entgegen den Vorstellungen der Beteiligten bewegt sich der Junge, er atmet, sein Puls geht. Nach fast zehn Stunden wird den Ärzten mulmig. Weil der Junge nicht wie vorgesehen stirbt, wird er schließlich intensivmedizinisch betreut. Der Vorfall wäre nie durch die Presse gegangen, hätten nicht die Eltern des Jungen gegen die Oldenburger Frauenklinik geklagt. Sie seien nicht über das „Risiko“ aufgeklärt worden, so ihr Vorwurf, daß ihr Kind überleben könnte. Der Junge wurde in der 25. Schwangerschaftswoche abgetrieben – seine Eltern wollten kein Kind mit Down-Syndrom. Der als „Oldenburger Baby“ bekannt gewordene Tim vollendet in dieser Woche sein zehntes Lebensjahr. Er hat liebevolle Aufnahme in einer Pflegefamilie gefunden. Wäre er damals nicht abgetrieben worden, ginge es ihm heute allerdings wesentlich besser. Die grausigen Umstände von Tims Geburt sind kein Einzelfall. Experten gehen davon aus, daß bei Abtreibungen nach der 20. Woche etwa jedes dritte Kind zunächst lebend zur Welt kommt. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, das Thema ist tabuisiert wie kaum ein anderes. Es stockt einem der Atem, aber die vorgeburtlichen Kindstötungen in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft, die sogenannten Spätabtreibungen, sind nur eine besonders gräßliche Konsequenz aus der heutigen Rechtslage, der Diagnose- und Abtreibungspraxis: Bei behinderten Kindern stellt nicht einmal mehr die Geburt unzweifelhaft die Grenze für die Anerkennung ihres Lebensrechts dar. In Kliniken ist es tägliche Praxis, daß ein ungewolltes, abgetriebenes Zwangsfrühchen mit 600 Gramm Gewicht getötet wird – es wäre außerhalb des Mutterleibes schon lebensfähig -, während im Nebenraum ein gewolltes Frühgeborenes mit 500 Gramm Geburtsgewicht mit allem medizinisch Machbarem gerettet und aufgepäppelt wird. Denn überlebt ein Kind seine eigene Abtreibung, muß nun gerettet werden, was kurz vorher noch „weggemacht“ werden sollte. Behinderte haben auch deswegen immer weniger Chancen zu überleben, weil mit immer weniger Aufwand immer besser Gendefekte festgestellt werden können. „Wir gucken mal, ob alles in Ordnung ist“, heißt es in den gynäkologischen Praxen landauf, landab vor der Ultraschalluntersuchung. Die pränatale Diagnostik (PND) ist seit ihrer Einführung starker Kritik ausgesetzt gewesen. Es wird eingewandt, daß die Untersuchungen eigentlich eine Auseinandersetzung mit der Frage voraussetzen: Was ist, wenn mit dem Ungeborenen etwas „nicht stimmt“? Auch wird immer wieder problematisiert, daß eine große Zahl an Behinderungen zwar diagnostiziert, aber nur ganz wenige davon pränatal therapiert werden können. Der schockbehaftete Befund einer möglichen Behinderung zieht heute fast automatisch nur eine „Behandlung“ nach sich: die Abtreibung. Mit der Entscheidung darüber und ihren Folgen bleiben die Eltern allein. Tatsächlich ist die Pränataldiagnostik zur neuen Eugenik unserer Zeit geworden. Man muß es kraß sagen: einer „Eugenik von unten“. Kein Staat zwingt Frauen und Paare zur Aussonderung von unerwünschten ungeborenen Kindern. Die gezielte Fahndung nach Behinderungen gehört längst zur freiwilligen und allseits akzeptierten „Vorsorge“-Routine. Einschlägige Studien belegen, daß bis zu 95 Prozent der Frauen, bei denen die Fruchtwasseruntersuchung eine Erbmaterialstörung diagnostiziert, ihr Kind abtreiben – das bis zu diesem Zeitpunkt eigentlich erwünscht war. Auch Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte werden vor der Geburt getötet, obwohl diese Fehlbildung heute gut zu korrigieren ist. Auch wenn niemand gern darüber spricht: Vorgeburtliche Selektion ist deutsche Realität. Das System der PND auf dem Hintergrund einer liberalen Abtreibungsgesetzgebung wirkt als solches selektiv, auch wenn die Absichten aller Beteiligten – der Schwangeren, der Gynäkologen, der Forschung – vielschichtig und nicht notwendig und bewußt selektiv sein mögen. Was als Maßnahme zur Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit gedacht war, ist zum Säuglings-TÜV geworden. Bei Nicht-Gefallen der Leibesfrucht: Return to sender. Die Nähe zu Praktiken in der NS-Zeit liegt auf der Hand. Doch der Blätterwald, der sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Entrüstungssturm rauscht, steht schwarz und schweiget, wenn potentiell behinderten Kindern schon im Mutterleib das Lebenslicht ausgeblasen wird. Das ungeborene Leben hat hierzulande nur eine schwache Lobby. Die Lebensschutz-Initiativen können von steuerlichen Zuwendungen, wie sie die Einwanderungslobby oder Antifa-Gruppen einstreichen, nur träumen. Ihr Einfluß ist auch deswegen begrenzt, weil als Folge des aufgeweichten gesetzlichen Schutzes das Unrechtsbewußtsein im Hinblick auf Abtreibungen geschwunden ist: Vielfach wird von einem Rechtsanspruch ausgegangen; in Gesprächen spürt man Widerwillen, wenn das Thema angeschnitten wird. Die subjektivistische Geisteshaltung ist tief in die Seelen eingedrungen, die Verwirrung der Begriffe groß. Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD zwar eine Prüf- und Nachbesserungspflicht im Hinblick auf die besonders grausamen Spätabtreibungen vereinbart. Aber in dem Vertrag steht vieles drin, und Papier ist geduldig. Die Politik drückt sich träge um eine Regelung, derweil das Volk am demographischen Abgrund steht. Und diejenigen, die wegen jedes plattgefahrenen Laubfrosches einen Krötentunnel fordern? Die Berufsbetroffenen und Empörungsbeauftragten, die sonst bei jeder tatsächlichen oder auch nur eingebildeten Ähnlichkeit mit Vorgängen in der NS-Zeit Skandal schreien und sich wie toll gebärden? Sie verschließen die Augen, schauen weg und schweigen beredt vor der Selektion Behinderter und der unsäglichen Kulturschande der Massenabtreibungen, die uns noch einmal so schmerzhaft auf die Füße fallen wird.