Die Natur will den Übermenschen. Dies und nichts anderes ist das ausdrückliche Ziel der Evolution. Der Übermensch ist es, der das Mensch-Sein zu seiner Höhe führen soll. Er ist es, der von der Natur auserkoren ist, über alle Widerstände und Grenzen hinweg das Ziel des Lebens zum Erfolg zu bringen. Nur dazu hat die Natur lebendige Systeme erschaffen, die Energie an sich reißen und wieder abgeben. Sie hat den Tod und die Sexualität erfunden, um diese Idee zu vervollkommnen, denn bei der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entstehen neue genetische Muster. Bessere Überlebenschancen hatten am Anfang des Lebens die Systeme, die über genetische Neukombinationen den Anforderungen der Umwelt besser gerecht wurden; es waren die Systeme, die ihren Energiegewinn so einsetzen konnten, daß sie anderen Arten überlegen waren. Weil diese Art des Verhaltens durch die Wechselwirkung zwischen Genom und Umwelt im Sinne einer besseren Anpassung ständig verbessert wurde, haben organische Systeme im Laufe der Evolution diesen Vorgang genetisch fixiert: Die chemische Struktur der Gene wurde so programmiert, daß das System immer genügend Energie zum Leben bekommt. Und je mehr Energie das Leben bekommt, desto mehr möchte es in Zukunft haben. Aus diesen genetischen Grundbedingungen menschlichen Lebens heraus entstand der Geist des Materialismus. Er ist aus der biologischen Notwendigkeit entstanden, den Menschen als höchste organische Form entstehen und überleben zu lassen. Allerdings war der Mensch als einziges organisches System in der Lage, diesen Energiegewinn nicht nur wie die Pflanze in Form der Photosynthese seinem eigenen Haushalt zuzuführen, sondern über diese Energiemaximierung „Welt“ entstehen zu lassen. Es erschien das geistige Leben, die Möglichkeit zu reflektieren und Begriffe zu bilden. Doch wer wie der Homo sapiens fast alles kann und vermag, den muß die Natur mit einem Regulativ ausstatten. Er braucht ein Gewissen, er braucht Demut und Moral, damit die Umwelt, die ihn als ihre eigene Selbstbedrohung hervorgebracht hat, gleichsam vor ihm geschützt wird, wie es der Technikphilosoph Hans Jonas beschreibt. Diesen Moment, da das Leben anfing, sich selbst zu begreifen, indem es über sich nachdenkt, kann man als heiligen Augenblick bezeichnen, der den Mensch in eine geheimnisvolle Unabhängigkeit führte. Er war der Moment, als er (mit Herder gesprochen) von der Schöpfung freigelassen wurde. Im Laufe der Kulturentwicklung hat sich diese phylogenetisch programmierte moralische Anlage als höhere Systemeigenschaft in Form von Religionen und Philosophien ihren Platz in der Geschichte erobert. Diese kulturellen Systeme boten lange Zeit Schutz vor dem genetischen Materialismus, indem sie auf verschiedene Art und Weise die Demut vor dem Machbaren förderten und sich gegen den Verlust der Ehrfurcht vor der Schöpfung einsetzten. Erst Isaac Newton hat an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert dem Materialismus seinen vorrangigen Platz in der Gesellschaft zurückgegeben. Der Mathematiker und Physiker war von der Notwendigkeit einer mechanischen Naturerklärung überzeugt. Er lehnte jede metaphysische oder religiöse Interpretation von Phänomenen ab. Durch seine Analyse der Gesetze der Planetenlaufbahnen wurde die Naturwissenschaft zur Objektivierung von Naturgesetzen und die Physik zur Apparatewissenschaft, zur Techniktheorie. Wissen wurde nun für eine Naturauffassung produziert, die man als instrumentell bezeichnen kann. Mit der Industrialisierung wurde die Technik dann ein soziostruktureller Faktor und zur Gewinnmaximierung eingesetzt. Warenproduktion konnte jetzt zu großen Teilen bereits auf menschliche Arbeit verzichten. Wer wie der Homo sapiens fast alles kann und vermag, den muß die Natur mit einem Regulativ ausstatten. Er braucht ein Gewissen, er braucht Demut und Moral, damit
die Umwelt, die ihn hervorgebracht hat, gleichsam vor ihm geschützt wird. Technik und technische Wissenschaften betonen die Quantität, aber nicht die Qualität der Dinge. Sie klammern eine höhere Idee aus, indem sie alles auf Quantitatives reduzieren und Qualitatives nivellieren. Erwin Schrödinger, Kernphysiker, Nobelpreisträger und Erfinder der Wellenmechanik sagt, daß die Naturwissenschaften über die wesentlichen Dinge schweigen müßten: „Wenn ihr Weltbild nicht einmal blau, gelb, bitter, süß enthält, nicht Schönheit, nicht Freude, Leid, wenn alles Persönliche daraus methodisch entfernt ist, wie soll es da den erhabensten Gedanken enthalten, der dem Menschengeschlechte sich darbietet?“ Der genetische Materialismus ist nicht in der Lage, die Ontologie des Menschen, die vor allem über die Moral zum Ausdruck kommt, zu beschreiben. Gleichwohl hat sich der Materialismus in der modernen Kultur als überlegene Kraft gezeigt, zumal die Individuen im Zeitalter der Industrialisierung begonnen haben, sich am Konsum zu orientieren. Sittliche Ideen haben sich deshalb nie dauerhaft als verbindliche Normen durchsetzen können. Vielmehr haben sich auf Grundlage des genetischen Materialismus aus Genen, Zellen und Individuen funktionale Systeme gebildet, die im Verein zur ökonomischen Leistungssteigerung dienen. Dabei ist es vor allem das Spezialistentum, das zwar eine spezifische Problemlösungskompetenz erzeugen kann, aber wegen der kommunikativen Geschlossenheit der Systeme eine kritische Verantwortlichkeit über die Gefahren unmöglich macht. „Wenn ein Chemiker nur die Chemie versteht, dann versteht er auch die nicht“, sagt Lichtenberg. Fast jede neue Generation erreicht auf diese Weise einen neuen Höchststand an Möglichkeiten zur technischen Umwandlung von Materie in konsumfähige Energie. Angetrieben von einer entfesselten Wirtschaft, führt dies heute zu einer „Psychologie des Sofort-Haben-Müssens“, wie es der Verhaltensforscher Konrad Lorenz einmal ausdrückte. Weil das Individuum aber ständig neue Anpassungsvorgänge zeigen muß, um zu überleben, verändert diese neue Kultur ganz allmählich auch das menschliche Genom. Konrad Lorenz sprach in diesem Zusammenhang von einer „Gen-Kultur-Koevolution“. Dieser genetische Umbau, der auf der Ebene des Bewußtseins, also der geschriebenen und gesprochenen Gedanken sichtbar wird, kommt in der Moderne über Lernprozesse, über Konditionierungen zustande: Karriere bringt Geld, und mit Geld kann man die Bedürfnisse befriedigen, die man in unterschiedlicher Weise selbst erzeugt. Es kommt zu einer kontinuierlichen Rückwirkung des Erfolgs von Handlungen auf das vorangegangene Verhalten, zu einer positiven Dressur durch Belohnung. Das bedeutet, daß vor allem das Geld, das Medium der Wirtschaft, nicht nur die Motive bereitstellt, sondern auch motiviert, selbst zu wirtschaften. Der Handelnde greift damit auch in die Bedürfnisstruktur Unbeteiligter ein und verändert sie. In dieser Wechselwirkung reproduziert sich die moderne Gesellschaft. Diese über Lernen veränderten Verhaltensweisen dringen in das Unbewußte und bauen in der Folge die genomgebundenen Informationen um. Sittlichkeit, Demut, rücksichtsvolles Handeln werden immer weniger gebraucht, sie stören den Ablauf der funktional differenzierten Gesellschaft. Schließlich drängt die Evolution diese Eigenschaften zurück, und das Genom regrediert wieder auf eine frühe stammesgeschichtliche Entwicklungsphase: Die rücksichtslose Energiemaximierung gelangt wieder in den Vordergrund des Handelns. Dauerte es früher noch sehr lange, bis sich Informationen innerhalb des Genoms veränderten, so hat dieser Prozeß heute eine enorme Geschwindigkeit erreicht: Er ist innerhalb weniger Jahrzehnte möglich. Das liegt daran, daß die Umwelt moderner Gesellschaften aufgrund ihrer funktionalen Struktur in der Lage ist, die genetische Identität der Individuen schneller an ihre Erfordernisse anzupassen als dies früher der Fall war. Gerade am Typus des modernen Menschen ist dies zu sehen: Seine Identität ist schon die Identität des Gesamtsystems. Diese neue Daseinshaltung ist für die Sozietät von Nutzen, denn wenn der Schlüssel der Evolution im Anpassungswert, in der Nützlichkeit eines Organismus für die Umwelt liegt, dann bedeutet Nützlichkeit in der modernen Gesellschaft die Ausdehnung von Macht mit dem Erfolg der Leistungssteigerung. Wie sich die menschliche Hand an die Umweltbedingungen angepaßt hat, die dem Organismus nützlich erscheinen, so hat die kulturelle Evolution diese Identität so verändert, daß sie dem Gesamtsystem Nutzen bringt. „Alle Parteien hinweg für den Fortschritt der Seele“, schrieb im 19. Jahrhundert der Dichter Walt Whitman in seinem „Lied der offenen Straße“. Doch ist der Fortschritt, der sich in der modernen Gesellschaft durchgesetzt hat, ein Fortschritt der Funktion, ein Fortschritt der funktionalen Intelligenz, die jede Seelenregung verneint, weil sie die tieferen Ursachen des Lebens nicht in Zahlen oder Geld auflösen und dementsprechend auch nicht verstehen kann. Wachstumsprozesse schaffen damit ihre eigenen Voraussetzungen, und die moderne Gesellschaft wird zum Parasit am Menschsein selbst. Kulturelle Evolution bedeutet deshalb nicht unbedingt eine Wendung zum Guten, zum Besseren, zum Höheren, zum Vollkommeren. Verbessert wird nur die Leistungsfähigkeit, das Gesamtsystem. Kann man dies alles überhaupt noch Fortschritt nennen? Der Biologe Julian Huxley verneint dies. Für ihn ist die moderne Evolution prinzipiell schlecht: Er behauptet, daß es nicht die Aufgabe des Menschen sein könne, sie zu fördern; vielmehr müsse sie vereitelt werden. Für ihn ist die genetische Beschaffenheit des Menschen mittlerweile degeneriert, und es gehe in dieser Richtung weiter. Auch Konrad Lorenz spricht von einer gefährlichen Pathologie: „Wozu dient der Menschheit ihre maßlose Vermehrung, ihre bis zum Wahnsinn steigernde Hast des Wettbewerbs, die zunehmende immer schrecklicher werdende Bewaffnung, die fortschreitende Verweichlichung des verstädterten usw.“ Menschen? Die Evolution, wie sie sich in modernen Gesellschaften gestaltet, kann auch keine geeignete Richtschnur für das menschliche Leben sein. Denn das menschliche Leben ist, von seiner natürlichen Richtung her gedacht, auf die biologische und seelische Vervollkommnung des Menschen angelegt und nicht auf wirtschaftliches Wachstum, das letztlich nur einen ökologischen Ruin erzeugt. Sittlichkeit, Demut und rücksichtsvolles Handeln stören den Ablauf der funktional differenzierten Gesellschaft. Die Evolution drängt diese Eigenschaften zurück, und das Genom regrediert wieder auf eine frühe stammesgeschichtliche Entwicklungsphase. Aber trotz allem ist die Evolution per se nicht schlecht, sie ist nicht nur notwendig, sondern ihrem Prinzip nach auch gut: Der Mensch ist das einzige Wesen, das Verantwortung tragen kann. Nur er kann sich für Gut oder Böse entscheiden, das ist das eigentlich Wertvolle der menschlichen Evolution. Auch ein Affe kann Kunststücke zeigen, geschickte Hände können ihn dressieren; unter ungünstigen Umständen kann er Neurosen und Psychosen entwickeln, niemals aber kann er eine Symbolwelt aufbauen, die die Möglichkeit einer Ethik eröffnet. Dies ist das Reich des Menschen, und nur seines. Ethik bedeutet aber auch Verantwortung, und diese Verantwortung ist nicht nur Pflicht, sondern auch Last; sie kann auch nicht auf Recht und Gesetz und erst recht nicht auf einen Gott abgeschoben werden. Der Mensch war vor dem Staat und auch vor der Religion da, er hat ältere Rechte und Pflichten. Der Mensch, den die Evolution möchte, beginnt eigentlich erst dort, wo der heutige Staat und die kirchlich gebundene Religion ihre Grenzen ziehen müssen. So bleibt ein Leben, das sich vor allem vor dem Hintergrund eines genetischen Materialismus abspielt, nicht nur ein weites Land unerfüllter evolutiver Möglichkeiten, es stellt auch eine Gefahr für die Existenz der Menschheit dar. Diese Gefahr hat ihren Ursprung darin, daß die Natur in der modernen Gesellschaft zum Handelsgut geworden ist und alle Bewegungen des Menschlichen zum kommerziellen Tun degradiert werden. Doch besitzt gerade die Natur eine irreversible Zeitdimension. Man kann heute noch nicht sehen, was man gestern angerichtet hat. Die Schäden werden erst nach langer Zeit sichtbar – und wenn sie es sind, ist es meist zu spät, sie zu reparieren. Verantwortlich ist niemand mehr, denn die funktional differenzierte Gesellschaft kennt keinen Schuldigen, wie Niklas Luhmann sagt. Auf die Frage: „Wer hat das getan?“ folgt die Antwort „Der andere“, und der Letzte schließlich sagt: „Niemand“. Was bleibt, ist die Hoffnung Immanuel Kants, daß die Welt noch jung sei und der Mensch seine Bestimmung noch erreichen werde. Eine Möglichkeit von vielen, dies zu verwirklichen, könnte darin bestehen, die Rangfolge der Wissenschaften zu ändern. An erster Stelle müßte, gewissermaßen als Leitwissenschaft, die Soziologie stehen. Sie ist in der Lage, andere Wissenschaften und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft zu beschreiben – auch dort, wo es diesen aus Gründen der Politischen Korrektheit (und das heißt: mangelnder Funktionalisierbarkeit) nicht opportun erscheint. Es müßte sich die Erkenntnis durchsetzen, daß die Geisteswissenschaften das Leben viel tiefer umgestalten können, als es die Naturwissenschaften je tun können. Auf diese Weise könnte die funktionale Engführung der Wissenschaften in Frage gestellt werden und so der wissenschaftlich-technische Umgang mit der Natur selbst als Schaffensprozeß in den Blick kommen. Damit hätte sich auch der Gedanke etabliert, daß die Wissenschaft und die Technik in ihrer jetzigen Form unbeherrschbar sind. Schließlich müßte sich die Soziologie mit der Biologie eng verbinden. Die Ergebnisse dieser Soziobiologie müßten so umgesetzt werden, daß die Natur ihr Werk vollenden und den Übermenschen sichtbar werden lassen kann. Dieser neue Mensch würde seine „verlorenen Brüder“, wie Nietzsche schreibt, mit einer anderen Liebe lieben, als das heute der Fall ist. Er würde, wie Corti sagt, der gequälten und verängstigten Natur ein Erlöser sein, in dessen Antlitz sich die Züge des Schöpfers selbst spiegeln. Dr. Michael Mayer ist Soziologe, Sozialarbeiter und Publizist. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den studentischen Ansturm auf nichtstaatliche Universitäten (JF 51/06). Foto: DNA-Strang, Masse Mensch: Der Mensch, den die Evolution möchte, beginnt erst dort, wo der heutige Staat und die kirchliche Religion ihre Grenzen ziehen müssen