In den letzten Jahren wurde ein grundlegender Umbau des Gesundheitswesens eingeleitet. Die dazu erlassenen Reformgesetze lösten jeweils heftige Kritik und Proteste aus. Ausgangspunkt der Reformdebatte ist die These einer Kostenexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Schon nach den Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (2003) und der Bundesbank (2004) ist diese These jedoch nicht haltbar. Die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen sind danach – abgesehen vom Wiedervereinigungssprung – sogar seit 1975 tendenziell insgesamt nicht stärker gestiegen als das nominale Bruttoinlandsprodukt. Dies ist vor allem Folge der unterdurchschnittlichen Lohnsteigerungen sowie des Rückgangs der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung seit 1992 um insgesamt über drei Millionen bis 2005, letzteres wiederum Folge der Verlangsamung und schließlich sogar zeitweiligen Stagnation des Wirtschaftswachstums. Der in den letzten Jahren praktizierte Sparkurs mußte daher auch immer wieder neue Löcher in die Kassenbudgets reißen, solange die Konjunktur noch zu schwach war, um die über die zusätzliche Belastung der Versicherten bewirkten Ausfälle an Inlandsnachfrage auszugleichen. Bei annähernder Vollbeschäftigung hätten die Kranken- und Pflegeversicherung immerhin jährlich rund sechs bis sieben Milliarden Euro mehr in ihren Kassen gehabt. Richtig ist dagegen, daß die Ausgaben der GKV für Arznei- und Hilfsmittel in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen sind. Die zur Eindämmung dieses Anstiegs beschlossene Begrenzung der Leistungen ab 2004 auf verschreibungspflichtige Arzneimittel und auf einige wenige zentral festgelegte Ausnahmen führte zusammen mit erhöhten Zuzahlungen und Praxisgebühren zwar 2004 zunächst zu einem Rückgang der Ausgaben, doch nahmen sie 2005 sogar noch stärker wieder zu. Erst mit den daraufhin seit 2006 erfolgten zusätzlichen Regulierungen konnte der weitere Ausgabenanstieg vorerst abgeschwächt werden. Gesundheitspolitisch ist die Leistungsbegrenzung auf verschreibungspflichtige Mittel geradezu widersinnig, ist die Verschreibungspflicht doch nicht an die Wirksamkeit, sondern an die Gefahr ernster Nebenwirkungen gekoppelt. Wenn auch oft ein enger Zusammenhang zwischen der Stärke der Nebenwirkungen und der Stärke der Hauptwirkung besteht, so ist damit keineswegs ausgesagt, daß sanftere und daher nicht verschreibungspflichtige zugelassene Arzneimittel generell weniger oder gar nicht wirksam sind. Genau das aber suggeriert die Politik, indem sie praktisch nur die nebenwirkungsreichen Arzneimittel zum erstattungsfähigen Instrument des Gesundheitswesens macht. Vorteil dieser Vorgehensweise ist lediglich die einfache Durchführbarkeit und Kontrollierbarkeit. Immerhin wird aber den gesetzlichen Kassen im jüngsten Reformgesetz seit 1. April 2007 wenigstens die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen von Wahltarifen gegen Zusatzbeiträge auch die sanften Mittel der „besonderen Therapierichtungen“ (Phytotherapie, Homöopathie und anthroposophische Medizin) zu erstatten. Jedoch bleibt abzuwarten, in welchem Umfang die Kassen und schließlich die Versicherten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Kassenpatienten, die auf Kostenerstattungen angewiesen sind, müssen entweder höhere Nebenwirkungen in Kauf nehmen oder die Heilbehandlung reduzieren. Eine Therapie mit sanfteren, nicht rezeptpflichtigen Mitteln werden sich nur noch wenige leisten können. Ausmaß und Folgen der Nebenwirkungen werden bei solcher Verschreibungspraxis freilich vernachlässigt. Diese sind häufig ebenfalls mehr oder weniger behandlungsbedürftig. Werden zu ihrer Bekämpfung verschreibungspflichtige Mittel verschrieben, erhöhen diese nicht nur zusätzlich die Arzneimittelausgaben der Kassen, sondern können wiederum zusätzliche behandlungsbedürftige Nebenwirkungen auslösen. So gehen in Deutschland klinische Pharmakologen von jährlich ca. 16.000 auf Arzneimittel zurückzuführenden Todesfällen und ca. 120.000 ernsten Nebenwirkungsfällen aus. Ökonomisch gesehen spaltet außerdem die Verschreibungspraxis, wie jede Art von „Positivliste“, den Arzneimittelmarkt und schränkt damit den preisdämpfenden Wettbewerb sowohl zwischen den Arzneimittelherstellern als auch zwischen den Kassen ein. Auf der Angebotsseite erlangen diejenigen Arzneimittel, die die Leistungsmerkmale der GKV erfüllen – zusätzlich zu einem eventuellen Patentschutz – Marktvorteile, wenn nicht sogar Monopolstellungen. Derartige Vorteile pflegen Unternehmen über kurz oder lang zu Preiserhöhungen oder zu teureren („neuen“) Produkten auszunutzen. Auf der Nachfrageseite werden sowohl der Therapiefreiheit der Ärzte als auch der Mündigkeit der Bürger enge Grenzen gesetzt. Zumindest soweit die Kassen-Patienten und Beihilfeberechtigten auf Kostenerstattungen angewiesen sind, müssen sie also entweder zumeist höhere Nebenwirkungen in Kauf nehmen oder – auch angesichts der Zuzahlungen und Praxisgebühren – die Heilbehandlung mehr oder weniger reduzieren. In all diesen Fällen bleibt dem Arzt kaum noch die Möglichkeit einer individuell differenzierten Therapie mit preiswerten, nicht mehr verschreibungspflichtigen und schwächer dosierten oder auch alternativen Mitteln. Somit kann er die Bedürfnisse vieler Patienten mit chronischen oder multiplen Erkrankungen oder mit Unverträglichkeitsproblemen nach nebenwirkungsarmen, sanften Arzneimitteln oft nicht erfüllen. Künftig werden sich, je nach Wahltarifentwicklung, wohl nur noch die Bezieher ausreichend hoher Einkommen eine regelrechte Therapie mit sanfteren, nicht rezeptpflichtigen Mitteln leisten können. Älteren Bürgern ist es zudem aufgrund ihres Alters kaum noch möglich, hierfür notfalls eine spezielle private Zusatzversicherung abzuschließen, selbst wenn sie bereits privat versichert sind. Gerade die weitgehende Leistungseingrenzung auf verschreibungspflichtige Mittel fördert also eine unsoziale Zwei-Klassen-Medizin und verletzt außerdem bei älteren Bürgern auf eklatante Weise den Vertrauensschutz – insbesondere bei Pensionären, die in früheren Jahren aufgrund der Beihilfe zu einer Reduzierung ihrer Privatversicherung veranlaßt wurden. Auf jeden Fall dürften mehr teure und hochdosierte Mittel verschrieben werden als nötig, wodurch zusätzliche Kosten zur Behandlung von Nebenwirkungen entstehen. Dagegen könnten gerade die preiswerteren Medikamente der „besonderen Therapierichtungen“ wesentlich zur Einschränkung der Kosten im Gesundheitswesen beitragen. Statt dessen dürfen die gesetzlichen Krankenkassen nunmehr für bevorzugte Arzneimittel mit Billig-Herstellern Rabattverträge abschließen. Und nur noch diese Mittel dürfen von den Apotheken an den Patienten abgegeben werden, auch wenn der Arzt ein anderes Mittel mit gleichem Wirkstoff und gleicher Wirkstoffmenge verschrieben hat. Die Patienten können das ursprünglich verschriebene Mittel selbst dann nicht bekommen, wenn sie den Preisunterschied aus eigener Tasche bezahlen. Zwar kann der Arzt zur Zeit noch den Bezug eines anderen Mittels auf dem Rezept explizit ausschließen, doch muß er dann zumindest mit Nachfragen rechnen. Außerdem gibt es bei der Kassenärztlichen Vereinigung offenbar Bestrebungen, diesen Ausweg den Ärzten zu verschließen. Ferner dürfen die Kassen bei den Patienten für die bevorzugten Mittel werben, indem sie die Patientenzuzahlung mindern oder sogar ganz streichen. Auch planen etwa die Allgemeinen Ortskrankenkassen, wo die Bestimmungen es erlauben, die Ärzte durch Rabattbeteiligung zu dem gewünschten Verhalten zu veranlassen. Die gegenwärtige Reform schränkt somit Markt, Therapiefreiheit und Mündigkeit der Bürger nochmals drastisch ein und führt letztlich zu einer Einheits- und Zuteilungsmedizin durch die GKV. Auf eine zusätzliche und verteuernde Marktverengung laufen auch die von Wissenschaft und Politik derzeit favorisierten statistischen Wirksamkeitsnachweise hinaus. So stehen bei der ergänzend zum bisherigen Zulassungsverfahren eingeführten Nutzenbewertung zufallsgerechte, placebokontrollierte Doppelblind-Studien an erster, die Erfahrung an letzter Stelle. Doppelblind-Studien erfordern jedoch nicht nur genau definierte Wirkstoffgaben, sondern auch eine jeweils statistisch genügend große Anzahl weitgehend gleichartiger Testpersonen, die überdies von anderen Einflüssen möglichst isoliert werden müssen. Diese Studien sind daher nicht nur sehr aufwendig, sondern auch meist nur für kurze Zeiträume hinreichend realisierbar, so daß rasche und starke Effekte zwar relativ leicht erfaßt werden können, langsame und längerfristige Nebenwirkungen und deren Folgen für Gesundheit und Kosten jedoch kaum. Vernachlässigt wird außerdem die Individualität und Komplexität des Menschen. Solche Testansätze können dem Menschen nicht gerecht werden und damit auch nicht der ganzheitlich und individuell orientierten naturheilkundlichen, pflanzlichen sowie der homöopathischen und anthroposophischen Erfahrungsmedizin. Vernachlässigt wird etwa, daß sich pflanzliche Wirkstoffe im ganzheitlichen Verbund anders auswirken können als einzeln. Homöopathie und Anthroposophie ihrerseits setzen zumeist keine Mittel „gegen“ eine Krankheit ein, sondern genau auf die spezielle Erkrankung abgestimmte Mittel in minimaler Konzentration zur Anregung und Regulierung der Selbstheilungskräfte des jeweiligen Patienten. Hierzu muß der Mensch als individuelle Ganzheit erfaßt werden, so daß Patienten mit der gleichen Erkrankung im Gegensatz zu den Anforderungen der Doppelblind-Studien oft ganz unterschiedliche Potenzen des gleichen Wirkstoffes oder sogar ganz unterschiedliche Mittel bekommen müssen. Die Begrenzung der Kassenleistungen auf nebenwirkungsreiche preiswerte Medikamente wird dazu führen, daß mit den sanfteren, aber teureren Arzneimitteln zugleich ein großer, alter medizinischer Erfahrungsschatz verlorengeht. Zwar kann man heutzutage noch nicht wissenschaftlich eindeutig erklären, wie die homöopathischen Mittel wirken, und sind in Hochpotenzmitteln den heutigen naturwissenschaftlichen Meßmethoden zufolge keine Wirkstoffe nachweisbar. Gleichwohl konnte inzwischen selbst für homöopathische Mittel die oft bezweifelte Wirksamkeit bereits in zahlreichen Fällen wissenschaftlich nachgewiesen werden – und dies auch für Hochpotenzmittel. Außerdem: Gehört nicht auch die Erfahrung des Therapeuten und die individuelle Therapie des Patienten zum medizinischen Fortschritt? Belegt nicht die Geschichte, wie vorläufig und zeitbedingt selbst die naturwissenschaftlichen Ergebnisse sind und wie fragwürdig daher jeglicher Absolutheitsanspruch der heutigen Schulmedizin oder gar einer zentralen Gesundheitsbürokratie? Durch die derzeitige einseitige Nutzenbewertung und Leistungsbegrenzung auf rezeptpflichtige Arzneimittel werden – unter Inkaufnahme längerfristiger Nebenwirkungen – stark und schnell wirkende Mittel mit jeweils nur einem Wirkstoff und somit vor allem chemische Mittel sowie kapitalkräftige Unternehmen bevorzugt, die sich die aufwendigen Nachweisstudien leisten können. Benachteiligt werden die sanfter oder komplexer wirkenden, individuell differenziert verordneten und daher den engen Nachweisstudien nur schwer zugänglichen Heilmittel der naturheilkundlichen pflanzlichen, homöopathischen und anthroposophischen Erfahrungsmedizin. Deren meist mittelständischen, wenig kapitalkräftigen Hersteller mußten daher trotz langer positiver Erfahrung bereits manche Mittel vom Markt nehmen, auf Neuzulassungen verzichten oder sogar schon ganz schließen. Die zur Drosselung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung und der staatlichen Beihilfe seit 2004 ergriffenen Maßnahmen auf dem Arzneimittelgebiet sind sowohl gesundheits- und gesellschaftspolitisch als auch markt- und gesamtwirtschaftlich höchst fragwürdig und offensichtlich weitgehend Ausdruck eines engen naturwissenschaftlichen oder gar mechanistischen Denkens – oder eines mangelnden Verständnisses wirtschaftlicher Zusammenhänge. Mit immer mehr Dirigismus haben die Maßnahmen das Tor zu einer Einheits- und Zuteilungsmedizin weit geöffnet: insbesondere mit der weitgehenden Leistungsbegrenzung auf nebenwirkungsreiche starke, meist chemische Mittel und auf einzelne Hersteller, mit einseitigen Nutzenkriterien sowie mit der daraus resultierenden Existenzgefährdung der sanfteren Erfahrungsmedizin, der Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit und der Mündigkeit der Bürger. Nach aller Erfahrung mit solch planwirtschaftlichen Ansätzen kann damit weder eine nachhaltige Gesundung der Kassenfinanzen noch eine zukunftsträchtige Arzneimittelversorgung erreicht werden. Außerdem wird letztlich die Bevölkerung um sanfte Heilmittel gebracht und schließlich ein großer, alter medizinischer Erfahrungsschatz verlorengehen. Statt vermehrter staatlicher Bevormundung dürfte es effizienter sein, der Staat würde für mehr dezentralen Wettbewerb auf allen Ebenen und für mehr Transparenz sorgen sowie die Erstattungsfähigkeit von Therapie und Arzneimittelarten zumindest dem freien Wettbewerb der einzelnen Kassen und deren Wahl im einzelnen weitgehend dem Arzt und Patienten selbst überlassen. Entscheidend zur Gesundung aller Sozialkassen sind mehr Wachstum und Beschäftigung und eine entsprechend wachstumsorientierte und zugleich konjunkturgerechte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dr. Wolfgang Klauder war Leitender Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg.