Es erfüllt mich mit Freude und Dankbarkeit, daß ich Elisabeth Noelle würdigen darf, zumal das hier in Berlin geschieht, wo sie geboren wurde und wo mächtige Kunstwerke an ihren Großvater, den Bildhauer Fritz Schaper, erinnern. (…) Ferner finde ich ein spitzbübisches Vergnügen daran, daß ich vierzehn Tage vor ihrem 90. Geburtstag, an dem alle Welt sie feiern wird, das Wichtigste vorwegnehmen darf. Außerdem bin ich froh, daß die Ehrung im Sinne Gerhard Löwenthals erfolgt, des unerschrockenen Kämpfers für die Freiheit. Elisabeth Noelles Elternhaus steht in der Limonenstraße 8, nahe dem Botanischen Garten. Von ihrem neunten bis dreizehnten Lebensjahr zog sie sich mit Vorliebe in ein Zelt zurück, das sie im parkähnlichen Garten ihrer Eltern weit hinten zwischen Johannis- und Stachelbeersträuchern aufgeschlagen hatte. Dort hat sie trainiert, die Einsamkeit zu ertragen, unter der sie wegen ihrer häufigen Krankheiten so sehr gelitten hat. In diesem Zelt klang zum erstenmal ihr Lebensthema an: die Entdeckung, daß Menschen sich vor nichts so sehr fürchten wie vor Isolation. In der Abgeschiedenheit des Zelts hat sie sich zur Selbständigkeit erzogen, die sie befähigte, unabhängig vom Lob und Tadel ihrer Umwelt die eigene, als richtig erachtete Meinung zu vertreten, anfangs trotzköpfig, später immer klarsichtiger, zielbewußter. (…) Journalistin, Unternehmerin, Wissenschaftlerin Bei einem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten änderte sie eigenmächtig ihr Doktorthema um. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1936 war sie auf die neue Methode der repräsentativen Bevölkerungsumfrage aufmerksam geworden. Kurzerhand teilte sie ihrem Doktorvater Emil Dovifat, dem Nestor der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft, mit, sie schreibe ihre Dissertation über „Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse“. In ihrer Begeisterung bedachte sie nicht, daß das Thema von den daheim herrschenden Nationalsozialisten als delikat, wenn nicht gefährlich betrachtet werden mußte. Diese Unbekümmertheit war charakteristisch für die junge Dame, und für Dovifat, der von den Nationalsozialisten argwöhnisch bespitzelt wurde, war es typisch, daß er ihr über alle politischen Klippen half. Damals werden sie beide nicht gewußt haben, daß das die Sternstunde der deutschen Sozialforschung war. (…) Aber 1939 konnte sie nicht daran denken, daraus einen Beruf zu machen. So verwirklichte sie ihren Mädchentraum und wurde Journalistin: 1939 Volontärin bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung. 1940 bis 1942 Redakteurin beim Reich. Hinauswurf auf Anordnung von Goebbels, nachdem sie ein Porträt über Franklin D. Roosevelt geschrieben hatte, Unterschlupf bei der Frankfurter Zeitung, bis das liberale Blatt 1943 verboten wurde, danach Mitarbeit bei anderen Blättern, die der Verlag der Frankfurter Zeitung herausbrachte. Erst 1947 gründete sie das Institut für Demoskopie Allensbach, zusammen mit Erich Peter Neumann, den sie schon beim Reich kennengelernt und 1946 geheiratet hatte. Ihr Lebenswerk hätte sie nicht vollbringen können, wenn es ihr nicht gelungen wäre, drei Berufe optimal miteinander zu verbinden. Als Journalistin warb sie für die Umfrageforschung und erläuterte deren Ergebnisse; als Unternehmerin sicherte die Grande Dame der Demoskopie die materiellen Grundlagen des Allensbacher Instituts ab und investierte ihre Gewinne idealistisch in sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung; als Wissenschaftlerin verbesserte sie die Methoden und hob die Demoskopie auf ein bis dahin nicht für möglich gehaltenes Niveau. Sie demonstrierte das gegen alle Einwände mit Wahlprognosen, die, von den letzten Wahlen abgesehen, seit einem halben Jahrhundert durchschnittlich nur um ein Prozent von den amtlichen Endergebnissen abwichen. Als ich 1964/65 zu ihr an den Bodensee kam, hatte sie gerade die wichtigste Hürde in ihrem dritten Beruf als Wissenschaftlerin genommen: 1964 war sie auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Publizistik an der Universität Mainz berufen worden. Sie wußte schon genau, über welches Thema sie ihre Antrittsvorlesung halten wollte; denn sie hatte, wie sie sagt, eine Art Flammenzeichen an der Wand gelesen: „Öffentliche Meinung und soziale Kontrolle“. Aber sie hatte, auch das vertraute sie mir später an, keine Ahnung, wie sie den Titel ausfüllen sollte, und beauftragte mich daher, nachzuforschen, was es mit dem Begriffspaar auf sich habe. Es sollte das schönste Jahr in meinem Berufsleben werden. Beim Schnüffeln in der philosophischen und historischen Literatur wurde ich fündig, und als Elisabeth Noelle im Sommer in ihr Ferienhaus in Piazzogna fuhr, packte ich ihr einen Koffer voller Bücher ein, obenauf John Lockes „An Essay Concerning Human Understanding“ ( 1671). Sie machte daraus einen sensationellen Vortrag, in dem sie öffentliche Meinung als eine Kraft definierte, die in zwei Richtungen wirkt: Einerseits integriere sie die Herrschaft, andererseits die Einzelnen in die Gesellschaft. (…) Elisabeth Noelle sollte ihre gute Meinung von der Öffentlichkeit in der Demokratie ändern. Sie mußte erleben, daß Öffentlichkeit auch als Bedrohung wirken kann. In den siebziger und achtziger Jahren bot sie nicht nur der studentischen Öffentlichkeit die Stirn, sondern auch der Medienöffentlichkeit, der sie korrigierend die demoskopisch ermittelte Mehrheitsmeinung gegenüberstellte. Wer schweigt, hat schon verloren Dieser Gewinn an Realität durch Konfrontation von veröffentlichter Meinung und Umfrageergebnissen ist ihr Verdienst: Sie ist ein Leuchtturm in der Medienbrandung. Viele Medienmächtige verübeln es ihr, wie leidenschaftlich sie nachzuweisen sucht, daß Massenmedien stärker wirken, als Journalisten es wahrhaben möchten. Trotzig nannte sie das Fernsehen einen getarnten Elefanten. Damals beobachtete sie auch, wie ein namhafter Teil der Wähler in emotional aufgeheizten Wahlkämpfen mit seiner Meinung hinter dem Berge hielt. Immer deutlicher erkannte sie, daß jeder Mensch eine „soziale Haut“ besitzt, mit der er registriert, welche Ansichten in seiner Umgebung auf Zustimmung und welche auf Ablehnung stoßen. Bei Auseinandersetzungen drängen sich diejenigen, die glauben, mit ihrer Meinung Anklang zu finden, zu Wort; dagegen halten sich die anderen, die sich in der Minderheit oder auf der Verliererstraße wähnen, zurück. Daraus entwickelt sich eine Spirale: Der Anteil der Lauten wird immer lauter, immer größer, der Anteil der Stummen schrumpft. Kaum zu glauben, wie viele Anpasser, wie viele Duckmäuser es gibt, nicht nur an den Universitäten, nicht nur in den Redaktionen! Elisabeth Noelles Buch über die Schweigespirale ist inzwischen in dreizehn Sprachen übersetzt worden. Es ist die erfolgreichste Publikation der deutschen Kommunikationswissenschaft. Allerdings unterwerfen sich nicht alle dem Meinungsdruck. Die Schweigespirale dreht sich nur bis hinunter auf einen Kern der Unerschrockenen, der „moralischen Helden“. Ich zögere nicht, Gerhard Löwenthal und Elisabeth Noelle in einem Atemzug so zu nennen. (…) Löwenthal entnahm seine Leitschnur den Sprüchen Salomos: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verloren sind“ (Kap. 31,8) Ein Aufsatztitel Elisabeth Noelles warnt: „Wer schweigt, hat schon verloren“. Dr. Kurt Reumann , geb. 1934, ehemaliger Mitarbeiter des Instituts Allensbach, war von 1970 bis 2000 Redakteur für Bildungspolitik bei der FAZ. Fotos: Ehrenpreisträgerin: Elisabeth Elisabeth Noelle-Neumann; Kurt Reumann: „Die Schweigespirale dreht sich nur bis hinunter auf einen Kern der Unerschrockenen, der moralischen Helden‘. Ich zögere nicht Gerhard Löwenthal und Elisabeth Noelle in einem Atemzug zu nennen.“; Laudator: Kurt Reumann; Stellvertretend: Thomas Petersen erhielt den Preis für Noelle-Neumann