Tag der Heimat – Tag der Sonntagsreden. Wenn sich die Politik am 2. September zum alljährlichen Stelldichein mit den Heimatvertriebenen begibt, wird wieder geheuchelt werden, daß sich die Balken biegen. Es fällt schwer, einen Teil des deutschen Volkes auszumachen, dem in fast sechzig Jahren Bonner und Berliner Republik größere Versprechungen gemacht und herbere Enttäuschungen bereitet wurden als den Überlebenden aus den Ostprovinzen des untergegangenen Reiches und den volksdeutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropas, die verjagt, von Hab und Gut, Glück und Gesundheit und nicht selten von Leib und Leben „befreit“ worden sind. Die Leidensfähigkeit der deutschen Heimatvertriebenen ist über die Jahr-zehnte hart geprüft worden. Willy Brandt, der zum Schlesiertreffen 1963 mit donnerndem „Verzicht ist Verrat“ die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ablehnte und kaum ein Jahrzehnt später die Ostverträge unter Dach und Fach brachte, gab eine erste Ahnung von der zweifelhaften Haltbarkeit markiger Politikerworte. In der sozialliberalen Ära mit ähnlichen Parolen von CDU und CSU bei Laune gehalten, mußten die Heimatvertriebenen nach der ausgebliebenen „geistig-moralischen Wende“ in den Achtzigern lernen, daß von dieser Seite auch nichts Besseres zu erwarten ist. Nach 1989 war dann endgültig Schluß mit dem sonntagsrednerischen Festhalten an einem Oder und Neiße überschreitenden Deutschlandbegriff; Ostdeutschland wurde terminologisch aus der Politikersprache verbannt und nach Mitteldeutschland verschoben. Die unionsinterne Scheinopposition aus München, die in der innigen Umarmung der Sudetendeutschen eine Säule ihrer Macht erblickt, brach über der Aushandlung des deutsch-tschechischen Vertrags von 1997 zusammen und verstummte nach Edmund Stoibers kleinlautem Rückzug vom Widerstand gegen den tschechischen EU-Beitritt schließlich ganz. Seither verspricht man den Vertriebenen gar nichts mehr, sondern lobt sie lieber unverbindlich für ihre gelungene Eingliederung, ihre Versöhnungsbereitschaft und ihren Verzicht auf Rache und Vergeltung, den sie bereits beim ersten Tag der Heimat am 6. August 1950 vor dem Stuttgarter Schloß in der „Charta der Heimatvertriebenen“ kundgetan haben. In der Tat: Daß über zwölf Millionen gewaltsam entwurzelter und traumatisierter Deutscher als Überlebende einer Jahrhundertkatastrophe weder resignierten noch revoltierten, sondern diszipliniert ihre Kräfte und Talente dem Wiederaufbau des zerrissenen und aus vielen Wunden blutenden Vaterlandes gewidmet haben, ist eine Leistung, deren Bedeutung für die deutsche Nachkriegsgeschichte kaum überschätzt werden kann. Es ist müßig zu spekulieren, ob die Heimatvertriebenen als soziales Unruhepotential größere Solidarität im In- und Ausland gefunden hätten. Sich so zu verhalten, wäre nicht nur für die Preußen unter ihnen undenkbar gewesen. Dieses letzte Geschenk Preußens an Deutschland wurde indes schlecht gedankt. Die Anliegen der deutschen Heimatvertriebenen, vom Heimatrecht und dem Anspruch auf Rückgabe geraubter Güter und Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts bis hin zur Pflege und Bewahrung des historischen und kulturellen Erbes der untergegangenen Provinzen und Siedlungsgebiete, wurden zum rhetorischen Kleingeld degradiert, das man zwar gerne beim Werben um Wählerstimmen einsetzt, dem aber kein Gegenwert in der politischen Realität gegenübersteht. Die Fürsorge für ein Viertel von Staatsgebiet und Bevölkerung des zerschlagenen Reiches wurde so zu einer bloßen Frage von Wählerfang und Parteienmanöver. Die staatspolitische Aufgabe dahinter übersteigt offenkundig den Horizont der politischen Klasse. Gemessen an ihrem „Wählerwert“ fallen die politischen Aktien der deutschen Heimatvertriebenen kontinuierlich; Gradmesser dafür ist nicht nur das stetige Schrumpfen und fast völlige Verschwinden der gemachten – und nicht eingelösten – Versprechungen, sondern ebenso das gnadenlose Zusammenstreichen der Etats für die Pflege ihres kulturellen Erbes. Was in ganz Deutschland dafür ausgegeben wird, nimmt sich neben der öffentlichen Randgruppen-Subventionierung im Rahmen des „Kampfes gegen Rechts“ mehr als bescheiden aus. Es mag das uneingestandene schlechte Gewissen über dieses Jahrhundertversagen der deutschen Politik sein, das die salbungsvollen Politikerreden auf Vertriebenentreffen so besonders unaufrichtig macht. Kaum ist das süße Lied verhallt, sehen sich die Vertriebenen den Verunglimpfungen aus dem In- und Ausland wieder ohne Deckung gegenüber. Seltsam antiquierte Reflexe sind es, die hier von unterschiedlichen Akteuren konserviert und rituell an den Vertriebenen und ihren Verbänden exerziert werden: Den Etablierten sind sie geringgeschätzte und gewohnheitsmäßig weitergepflegte Wählerklientel, der extremen Linken üble „Revanchisten“ und „Täter“, die kein Mitleid verdient hätten; den Vertreiberstaaten schließlich sind sie die Buhmänner, denen man jederzeit ein Hitlerbärtchen ankleben kann, um von den schwarzen Seiten der eigenen unbewältigten Vergangenheit abzulenken. Zuverlässig können die beiden letzteren darauf zählen, daß Politik und Meinungsmacher im Zweifelsfall lieber das reaktionäre und nationalchauvinistische Geschichtsbild der Vertreiberstaaten übernehmen, anstatt einen eigenständigen deutschen Standpunkt zu suchen. Diesen verkrusteten nationalmasochistischen Machtbehauptungsmechanismen ist zu verdanken, daß die in Literatur und Wissenschaft längst geführte differenzierte Debatte über die deutschen Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung am etablierten Politikbetrieb folgenlos vorüberzurauschen scheint. Nach wie vor gilt häufig die bloße Erwähnung deutscher Opfer als Affront gegen „die“ Opfer; das Zentrum gegen Vertreibungen und seine Ausstellung „Erzwungen Wege“ stehen trotz mehrfacher Entschärfung im Mittelpunkt wütender Angriffe und rhetorischer Scheingefechte; derweil darf jedes Mahnmalprojekt auf eifrige öffentliche Unterstützung bei der Suche nach einem Standort in Regierungsnähe rechnen, nur ein Vertreibungs-Mahnmal bleibt tabu. Für eine substantielle Wiedergutmachung gegenüber der bereits stark dezimierten Erlebnisgeneration mag die Uhr allmählich ablaufen. Für eine Rückkehr zu Redlichkeit und Gerechtigkeit in der Politik ist es dagegen nie zu spät. Ein würdiges Mahnmal für die deutschen Opfer von Vertreibung, Deportation und Völkermord, an zentraler Stelle in Berlin und ohne die üblichen politisch korrekten Kastrationen und Selbstzensurübungen, wäre ein erster Schritt auf dem Weg in die Normalität.
- Kommentar