Mit immer größerer Verwunderung reiben sich die Kommentatoren in den Zeitungen des Landes die Augen: Wie kommt es, daß die Deutschen derart unbekümmert, fröhlich und ausgelassen ihre Nationalmannschaft, aber auch ihr Land feiern, wie es in diesen Tagen während der Fußballweltmeisterschaft geschieht? Das Land ertrinkt in einem Meer von Fahnen. Inzwischen ist ein Wettkampf ausgebrochen, wer am Auto die meisten Fahnen unterzubringen versteht. Einst verfolgten die Zuschauer stumm, wie im Fernsehen das Abspielen der Nationalhymnen übertragen wurde. Noch vor einigen Jahren standen die Nationalspieler kaugummikauend da und warteten gelangweilt, bis die Hymne verklungen war. Heute singen sie engumschlungen lauthals mit, während der Gesang aus Zehntausenden Kehlen im Stadionrund vielstimmig erwidert wird. Der „neue Patriotismus“ ist in aller Munde, und die Feuilletonisten schreiben sich die Finger wund, um dieses Phänomen zu erklären. Das Neueste an diesem neuen Patriotismus ist aber, daß er auch vor gestandenen linksliberalen Journalisten nicht haltmacht, die sich bisher stets zurückgehalten haben und Distanz wahrten zum „tumben Nationalismus“ der Massen. Jetzt, da Klinsmanns Truppe im Achtelfinale steht, kennt das Land kein Halten mehr. Selbst für Frankfurter Rundschau, Süddeutscher Zeitung und Spiegel gibt es keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Exemplarisch zitiert sei ein Text: „Ich spüre etwas in mir. Etwas Verwirrendes. Eine Mischung aus Stolz, Aufgeregtheit und ständigem Harndrang. Ich weiß nicht, ob das schon Patriotismus ist, aber ich denke jetzt ernsthaft darüber nach, eine deutsche Fahne an unseren Balkon zu hängen. In unserer Straße gab es vor ein paar Tagen nur eine einzige Deutschland-Fahne. Sie flatterte müde im Wind, und ich dachte erst, daß man ziemlich dämlich sein muß, um so was zu machen. Jetzt gibt es schon acht Fahnen. Meine kleine Straße gerät in einen deutschen Taumel.“ (Maxim Leo in der Berliner Zeitung, 17. Juni 2006) Es ist ein eigenartiges, überraschendes neues Deutschlandgefühl, das sich breit macht. Die Allgegenwart der Nationalfarben ist keineswegs normal. Wer direkt nach dem Mauerfall am 9. November 1989 unter den durch die Straßen von Berlin (West) ziehenden Massen mit einer deutschen Fahne auftauchte, war allein auf weiter Flur und wurde immer wieder von westdeutschen Studenten angepöbelt. Völlig anders dann das Bild im Zuge der Wiedervereinigungsdemonstrationen in Leipzig im Frühjahr 1990 bis einschließlich 3. Oktober, den Tag der Einheit. Hier war die ehemalige DDR und Berlin überschwemmt mit schwarz-rot-goldenen Fahnen. In Westdeutschland: überwiegend Fehlanzeige. Ganz zu schweigen vom Singen der Nationalhymne. Als Helmut Kohl und Willy Brandt sie vor dem Schöneberger Rathaus anstimmten, wurden ihre Stimmen von einem Pfeifkonzert linker Demonstranten erstickt, und man machte sich hierüber in den Zeitungen ebenso höhnisch lustig wie über die Bundestagsabgeordneten, die sich spontan im Bonner Wasserwerk zum Singen erhoben hatten, nachdem die Nachricht vom Fall der Mauer verkündet worden war. Das verkrampfte Verhältnis der deutschen Öffentlichkeit zu den nationalen Symbolen der Gemeinschaft – Flagge und Nationalhymne – ist Spiegelbild der tief neurotisierten Beziehung zur eigenen Geschichte, zur eigenen Nation. In der öffentlichen Selbstwahrnehmung meinen deutsche Intellektuelle immer noch, sich ununterbrochen selbst in Frage stellen und entschuldigen zu müssen, und sind jetzt überrascht, wenn ihnen Auslandskorrespondenten bescheinigen, wie herrlich sie das selbstverständlich schöne Nationalgefühl der Deutschen finden. In jüngster Zeit mehren sich Anzeichen dafür, daß die Deutschen von ihrer nationalen Neurose genesen. Dabei mag die politisch-kulturelle Klasse nicht Schritt halten, aber es ist so. Und wenn diese Genesungsschritte auch nur langsam, sozusagen in homöopathischen Dosen vor sich gehen – im Grunde um so gesünder. So löst die verschwiemelte Kritik der 1968 stehengebliebenen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) an der Nationalhymne, die in einer aktuellen Pressemitteilung als „furchtbares Loblied auf die deutsche Nation“ tituliert wird, schon nur mehr homerisches Gelächter aus. In einstigen Hochburgen des verklemmtesten antinationalen Linkssektierertums fallen die versprengten letzten Häufchen verbiesterter „Antideutscher“ von einer Ohnmacht in die nächste, wenn sie miterleben müssen, wie selbst junge Türken aufspringen, um begeistert das Deutschlandlied mitzusingen. Die Fußballweltmeisterschaft ist für viele junge Leute, darunter besonders auch Deutsche mit „Migrationshintergrund“, die erste und prägende nationale Initiation. Es gibt in unserem Staat bedauerlicherweise keine andere Gelegenheit, bei der sich die Gemeinschaft in heiterer Form selbst feiert und des Zusammenhaltes vergewissert. In anderen Staaten ist dies üblicherweise am Nationalfeiertag der Fall. In Deutschland ist dieser Tag ein gekünsteltes, verkrampft-bürokratisches Datum. Weder Regierung noch Behörden, geschweige denn die Bildungseinrichtungen sind angehalten, aus diesem Tag ein Volksfest mit dem dafür nötigen minimalen nationalen Pomp zu gestalten. Dieser Tag ist einer von vielen arbeitsfreien Tagen, mit dem die allermeisten gefühlsmäßig wenig verbinden. Um aber kollektive Übereinstimmung demonstrativ sichtbar und erlebbar zu machen, ist ein solches fröhlich-pathtisches Zeremoniell notwendig. Nur so wird auch der emotionalen Rahmen für Integration geschaffen. Der anläßlich der Fußball-WM gegen den „neuen Patriotismus“ vorgebrachte Vorwurf, er sei ja nur „spielerisch“ und habe mehr mit Partylaune zu tun, verkennt, daß es beim Zeremoniell gerade auf das „Spielerische“ ankommt. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat dieses Phänomen in seinem Buch „Homo Ludens“ (Der spielende Mensch) beschrieben und weist nicht nur darauf hin, welchen „Platz das Spielen mitten unter den Kulturerscheinungen einnimmt, sondern inwieweit Kultur selbst Spielcharakter hat“. Er vertritt sogar die These, daß der religiöse Kult seine Wurzel im Spiel hat, bevor er sich zum Mythos verdichtete. Insofern ist es alles andere als lächerlich, wenn sich ausgerechnet bei einem Sportereignis patriotisches Zeremoniell entfaltet und eine Form schafft. So wird mit Freude ein Land kollektiv beflaggt, Gesichter schwarz-rot-gold bemalt, im Stadion stimmen Zehntausende und vor dem Bildschirm Millionen Zuschauer die Nationalhymne an. Wie lange dieser neue Patriotismus währt? Er schafft sich gerade skizzenhaft seine Form. Daß er anarchisch-spielerisch ertastet und nicht rationalistisch verordnet wird, ist vielleicht der gesündere Weg. Das gibt auch Schiller recht, der schon 1795 in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ postulierte: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“