Das Stadtoberhaupt war voll des Lobes für seine Bürgerschaft: In Kassel, so der inzwischen nicht mehr amtierende Oberbürgermeister Georg Lewandowski (CDU) in seiner Neujahrsansprache 2004, existiere „ein hohes Maß an sozialem Frieden“. „Wir haben eine Kultur des gegenseitigen Respekts und des Ausgleichs“, so Lewandowski weiter. In Kassel haben alle ihren Platz – ausdrücklich auch die vielen tausend aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stammenden Spätaussiedler. Von allen Kasseler Stadtteilen weist Waldau wohl den größten Anteil an Spätaussiedlern auf. Da diese Gruppe statistisch nicht gesondert erfaßt wird, ist ihre genaue Zahl schwer zu beziffern. Sie gelten automatisch als deutsche Staatsbürger, sobald sie den deutschen Paß erhalten haben. Ein Mitarbeiter des Kasseler Sozialamtes schätzt ihren Anteil an der Waldauer Bevölkerung auf 25 Prozent, die sich auf die Wohnstadt-Siedlung konzentrieren. Beim genauen Hinsehen bekommt die Idylle Flecken Walther Menzel (Name geändert) führt durch die Wohnstadt. Fast 20 Jahre hat er hier gelebt und die Entwicklung des Stadtteils verfolgt. Obwohl Waldau seit jeher als sozial belasteter Stadtteil gilt, bekennt er: „Ich habe mich hier wohl gefühlt.“ Die Wohnstadt ist eine Siedlung, die in den sechziger Jahren für rund 6.000 Menschen errichtet wurde. Über den Status einer Schlafstadt ist sie nie hinausgekommen. Die Architektur der Wohnkasernen wirkt monoton. Und dennoch erscheint die Umgebung alles andere als trist. Die gut erhaltenen Häuser sind umgeben von gepflegten Grünanlagen. „Im Sommer kannst du keine zwei Häuser weit sehen“, schwärmt Menzel. Spielplätze runden das Angebot für junge Familien ab, für die die Wohnstadt einst gedacht war. Doch beim genaueren Hinsehen bekommt die Idylle Flecken. Im Gebüsch liegen zahlreiche leere Doppelkorn- und Wodkaflaschen. Obwohl Waldauer Vereine und Verbände regelmäßig aufräumen, finden sich über die ganze Siedlung hinweg solche Müllplätze. Hier offenbaren sich die vorherrschenden Probleme unter Rußlanddeutschen: Alkoholismus und Jugendverwahrlosung. Gerade die jugendlichen Spätaussiedler fallen negativ auf: „Wir nennen sie die ‚Wodkas'“. Sie treten oft in Gruppen auf, ständig auf den Boden spuckend, niemandem Platz machend. Im Sommer raubten die nächtlichen Alkoholexzesse und Krawalle Menzel den Schlaf. Mädchen seien in diesen Gruppen sehr selten zu sehen. Diese verhielten sich genau umgekehrt, seien vor allem anpassungsbereiter. Auch viele ältere Spätaussiedler greifen regelmäßig zur Flasche. Die Neigung zum Alkoholmißbrauch, vermutet Menzel, hätten sie bereits aus Rußland mitgebracht. Durch die Frustration in der neuen Heimat würde sie verstärkt. Am Rande der Siedlung trifft Menzel auf Franz Kramer (Name geändert), einen alten Bekannten. Auch er berichtet über Konflikte mit jugendlichen Rußlanddeutschen. Auf dem Spielplatz neben dem Haus hätten sie die Kleinkinder aggressiv verdrängt. Kramer sprach die Jugendlichen direkt an und machte ihnen deutlich, daß ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. Er betont, daß er den Jugendlichen ohne Angst, aber auch nicht mit Verachtung gegenübertrete. Da Kramer von Berufs wegen im Umgang mit schwierigen Menschen erfahren ist und mit entsprechendem Selbstbewußtsein auftritt, weiß er: „So vorzugehen ist nicht jedermanns Sache.“ Jungen Rußlanddeutschen gibt man keine Chance Im Sportverein Tuspo Waldau hingegen funktioniere die Integration der Jugendlichen besser, erklärt Menzel: „Im Training geht es nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam – das verstehen sie!“ Die „alten Russen“ sind Menzel immer noch lieber als die Jungen. Die Erwachsenen seien sich für keine Arbeit zu schade, sei sie noch so hart – und die meisten von ihnen sprächen Deutsch. Und dennoch blieben sie ihm und seinen alteingesessenen deutschen Nachbarn fremd. Schleichend habe ein Prozeß eingesetzt, bei dem ein Haus nach dem anderen von sich abschottenden Familienverbänden belegt worden sei. Im Straßenbild dominierten zunehmend die Aussiedler. Irgendwann sei für ihn die Situation in Waldau zu beklemmend geworden. Vor zwei Jahren zog er um in eine Gemeinde im Kasseler Landkreis: „Zehn Jahre zu spät.“ Menzel ist nicht der erste Alteingesessene, der aufgrund dieser Entwicklung Waldau verlassen hat. Eines der Projekte, mit denen in Waldau die Integration der Spätaussiedler erleichtert werden soll, ist der „Treffpunkt Samowar“, eine von der evangelischen Kirchengemeinde getragene Begegnungsstätte für Spätaussiedler und Alteingesessene. Für seine mit öffentlichen Mitteln unterstützte Arbeit erhält der Treffpunkt von der Politik breite Anerkennung. 2003 bekam die Initiative sogar den mit 10.000 Euro dotierten Sozialpreis der Sozial- und Sportstiftung der Kasseler Sparkasse. Ein Jahr später nahm sie erfolgreich am ersten Landeswettbewerb für den Hessischen Integrationspreis teil. Im krassen Gegensatz dazu steht indessen die Haltung der alteingesessenen Bevölkerung zum „Samowar“. Ihr Vorwurf lautet, daß die Initiative gar keine Integration fördere. Hier finde kein Kontakt zur einheimischen Bevölkerung statt, die Spätaussiedler bleiben also weiter unter sich. Auf Nachfrage erklärt ein Jugendlicher: „Da gehen doch nur die alten Tanten hin.“ Menzel ergänzt, daß der Name Samowar, der eine russische Teemaschine bezeichnet, die alteingesessenen Deutschen überhaupt nicht anspricht. Der verantwortliche Pfarrer Gerhard Hochhuth gebe sich der Illusion hin, mit dieser Initiative könne Spätaussiedlern und Alteingesessenen eine Tür zueinander geöffnet werden. Doch finde dieser Kontakt lediglich auf der offiziellen Ebene der Vereine, Parteien und Kirchen des Stadtteils statt. Deutlich schärfer spitzt der Waldauer Karl Müller (Name geändert) seine Kritik am „Samowar“ zu. Auch er beklagt, daß der „Samowar“ nicht zur Integration der Aussiedler in die Mehrheitsgesellschaft beitrage. So würden dort in Rußland übliche Feiertage wie das Tannenbaumfest und der internationale Frauentag organisiert. Sarkastisch beschreibt er die weiteren Aussichten: „Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, wann der Waldauer Kirche rote Zwiebeltürme aufgesetzt werden.“ Der Unwille zur Anpassung falle nicht nur im Wohnumfeld auf, sondern auch im Kleingartenverein, wo die Aussiedler sich nicht an Regeln hielten. Konkret nannte er die Nichteinhaltung der Mittagsruhe, das Ignorieren baulicher Vorschriften und die Weigerung, sich an Gemeinschaftsarbeiten zu beteiligen. Für ihn zeige sich, daß die Aussiedler mit den Alteingesessenen nichts zu tun haben wollten und lieber unter sich blieben. Positiv falle ihm aber auf, daß man keinen der Aussiedler im arbeitsfähigen Alter ohne Arbeit finde. Die Älteren würden von den Arbeitgebern vor allem ihrer Erfahrung wegen geschätzt. Aber auch weil sie sich aus Angst um ihren Arbeitsplatz mehr gefallen ließen als andere. Den Jungen gebe man aber keine Chance. Auf Nachfrage wies Pfarrer Hochhuth jedoch den Vorwurf entschieden zurück, im „Samowar“ blieben die Aussiedler unter sich. Dort seien sogar mehr Alteingesessene als Aussiedler anzutreffen, von denen er sich eigentlich mehr wünsche. „Samowar“ sei nur ein Beispiel positiven Zusammenlebens im Stadtteil. Viele sähen ihn kritisch, ohne jemals einen Fuß hineingesetzt zu haben. Das Tannenbaumfest sei lediglich ein Aufhänger zur Begegnung gewesen. Außerdem könne man unter Integration auch das verstehen, was Aussiedler an ihren eigenen Traditionen hierzulande einbringen können. Schwer haben es vor allem die „Zu-Spät-Aussiedler“ Timur Raschidow (Name geändert) ist der einzige aus dem Aussiedlermilieu, zu dem Müller enge Kontakte unterhält. Der mit einer Deutschstämmigen verheiratete Kasache kam 1995 mit seiner Familie in die Bundesrepublik. Zwar fühlt sich er sich in Waldau wohl, aber auch er spürt die Kluft zwischen Alteingesessenen und Aussiedlern. Vor allem störe es die Aussiedler, hier pauschal nur als „die Russen“ wahrgenommen zu werden. Ihr Status in der deutschen Gesellschaft erinnere viele von ihnen an die Behandlung in der früheren Sowjetunion, wo sie als „Faschisten“ Menschen zweiter Klasse waren. Man fühle sich als Sündenböcke. Zusätzlich verletze es sie, wenn sie von Politikern als Problem-Gruppe behandelt werden. Die Anpassungsschwierigkeiten der Jungen erklärt er damit, daß diese auf das Leben hier nicht gut vorbereitet seien, „wie verlassene Kinder“ kämen sie ihm vor. Sie stehen unter hohem Konsumdruck, den die Eltern mit ihren Einkommen oft nicht befriedigen können. Hinzu kommen Sprachprobleme und die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Den Schulen wirft er Disziplinlosigkeit vor: „Keinen Lehrer interessiert es, ob der Schüler Hausaufgaben gemacht hat.“ In Kasachstan habe er das als Schüler nicht erlebt. Die Jugendlichen hier seien durch zuviel Freizeit sich selbst überlassen. Haben sich seine Erwartungen erfüllt, die er mit der Auswanderung seiner Familie nach Deutschland verbunden hat? Raschidow verneint, „ein normales Leben“ mit Arbeit und Geldverdienen sei hier nicht möglich. Bei gleicher Arbeit verdiene er weniger als seine alteingesessenen Kollegen. Doch noch schwerer hätten es diejenigen, die erst in den letzten Jahren gekommen sind, die „Zu-Spät-Aussiedler“. Neben Waldau gelten noch andere Stadtteile Kassels mit hohem Aussiedleranteil als soziale Brennpunkte. Im Helleböhn wurden im Herbst an die Hauswand eines Getränkemarktes Graffiti geschmiert mit der Aufschrift „Ghetto“ und „Usbekistan Boys“. Die von Aussiedlern dominierte Hochhaussiedlung Brückenhof ist gerade vom Verband der Südwestdeutschen Wohnungswirtschaft zum ersten Modellprojekt der „Aktion Stadt“ erklärt worden. Mit diesem Projekt soll unter anderem untersucht werden, wie die sozialen Strukturen eines Quartiers verbessert werden können, um Fehlentwicklungen wie etwa in den französischen Banlieues vorzubeugen. Besteht in Kassel – wie von Ex-Oberbürgermeister Lewandowski behauptet – eine Kultur des gegenseitigen Respekts und des Ausgleichs? „Wohl eher die Kultur des gegenseitigen Ausklammerns“, schließt Menzel seinen Rundgang durch Waldau ab. Doch Kassel steht damit nicht alleine, wie ein Blick auf den Fuldaer Stadtteil Aschenberg bestätigt. Mehr als 3.000 Menschen leben hier. Drei von vier Bewohnern stammen aus dem Ausland, jeder Zweite aus der Sowjetunion. Es zeigt sich, daß die Integration der Rußlanddeutschen keineswegs eine abgeschlossene Erfolgsgeschichte ist. Auch 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, der die große Ausreisewelle auslöste, steht ihre Integration noch am Anfang. Will man diesen Weg weiter beschreiten, muß zuerst die Frage beantwortet werden, wie Alteingesessene und Aussiedler zueinander finden. Aber an erster Stelle muß die Bereitschaft der verantwortlichen Politiker und Funktionäre stehen, sich der Lebenswirklichkeit ihrer Bürger zu stellen. Denn sie sind es, die die Folgen einer gescheiterten Integrationspolitik tragen müssen. Tannenbaumfest in der Waldauer Begegnungsstätte „Samowar“: Exklusive russische Traditionspflege oder der Unwille zur Anpassung Stichwort: Spätaussiedler Spätaussiedler sind deutsche Volkszugehörige, die die ehemalige Sowjetunion (inklusive des Baltikums), die ehemaligen Ostblockstaaten Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn oder Rumänien, aber auch die neu entstandenen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens verlassen haben. Aufgrund des deutschen Abstammungsrechtes haben sie einen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Auch in Anbetracht der ihnen als Folge des Zweiten Weltkrieges zugefügten Leiden sieht es Deutschland als seine historische Pflicht, diese Menschen aufzunehmen.