Wer ein Beispiel für jahrzehntelang vorgetragene und dennoch ohnmächtige konservative Kulturkritik sucht, wird dort fündig, wo es um die moderne Informations- und Kommunikationstechnik geht. Bereits das Telefon gab Anlaß zu einem ebenso scharfsinnigen wie wirkungslosen Kommentar: Als ein französischer Adliger einen Industriellen aufsuchte, bei dem er hoch verschuldet war, präsentierte ihm dieser sein neues Telefon, eines der ersten überhaupt in der Stadt. Der Zufall wollte, daß es klingelte, während man beim Abendessen saß. Der Industrielle sprang auf und dröhnte ausführlich in den Hörer. Dann kam er zurück und fragte stolz: „Nun? Was sagen Sie dazu?“ Der Adlige hatte seine Mahlzeit beendet und sprach: „Dies also ist das Telefon: Man klingelt, und Sie laufen.“ In dieser kleinen Anekdote steckt schon das ganze Problem. Es wird sichtbar, wenn man den Industriellen kurz stutzen und dann modern erwidern läßt: „So ist es. Und deshalb verdiene ich Geld, während Sie in Ruhe zu Ende speisen.“ Kurz gesagt: Wer sich aufscheuchen läßt, wenn es darum geht, als erster aus einer Information ein Geschäft zu machen, verliert seine Ruhe und gewinnt einen Wettlauf. Und weil die Neugier auf dieses Neue eine Konstante des Mensch-seins ist, bleibt jeder konservative Appell zum Verzicht auf ein Weiterdrehen des Rads so aussichtslos wie romantisch: Der Mensch ist, wie er ist, und der Erfindung von Fernsehen, Mobiltelefon und Internet eignet Zwangsläufigkeit. Das bedeutet: Konservative Kritik an der „Perfektion der Technik“ (um einen berühmten Buchtitel Friedrich Georg Jüngers zu nennen) ist scharfsinnig und hilflos zugleich, denn sie benennt mit frappierender Weitsicht eine Entwicklung, die unausweichlich im Menschen angelegt ist. Der Soziologe Arnold Gehlen (siehe auch den Beitrag auf Seite 14 dieser Ausgabe), gewiß einer der stärksten Köpfe von rechts, sprach deshalb stets davon, daß es keine zwingende Kulturkritik am technischen Fortschritt gebe. Allenfalls ließe sich sagen, daß die revolutionierte Kommunikations- und Informationstechnologie janusköpfig sei – wie jede Neuerung übrigens. Vor dem Fernseher sitzen Idioten und Gebildete, und letztere verarbeiten im besten Fall das Gesehene und machen es fruchtbar. Solches festzustellen, ist gleichzeitig eine Kapitulation vor dem Unvermeidlichen und eine Verlagerung des Einwirkens auf die Wenigen und auf den richtigen Umgang mit den Mitteln, die nun einmal da sind. Auf die Lehrbarkeit dieses „richtigen Umgangs“ setzte noch 1976 der konservative Publizist Gerd-Klaus Kaltenbrunner in einem sehr aufschlußreichen Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Bändchen über die „Macht der Meinungsmacher“. Heute sind wir ernüchtert: Den Umgang mit der elektronischen Grundausrüstung eines jeden Haushalts kann man – dreißig Jahre später – getrost und ohne jede Übertreibung als verheerend bezeichnen. Die von dem Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz prophezeite Verhausschweinung des Menschen hat längst einen unappetitlichen Grad erreicht. Bereits bei den Jüngsten beginnt die Verarbeitung des Gehirns zu Brei. Unglaubliche 800.000 Kleinkinder sitzen in Deutschland abends nach zehn noch vor dem Fernseher, seelisch malträtiert vom TV-Mord, rasenden Bildwechseln, menschlichem Abgrund. Der Nachmittag selbst gehört so oder so dem „Babysitter Fernsehen“: Pro Kind (bis 15 Jahre) beträgt der Fernsehkonsum in Deutschland über drei Stunden täglich, die Programmgestaltung erfolgt wahllos oder ist dem Kind selbst überlassen. In jedem fünften Kinderzimmer steht ein Fernseher, und es gibt Berichte, wonach selbst in manchen deutschen Kindergärten ständig der Kanal für die Kleinsten läuft. Über die Folgeschäden des hemmungslosen Fernsehkonsums gibt es grundsätzlich keinen Streit mehr: Abstumpfung der Sinne, geistige Trägheit und körperliche Verfettung, verzögerte Sprachentwicklung bis hin zur Sprachstörung, soziale Isolation und schwere seelische Störung sind periodisch diskutierte Probleme, gestritten wird allenfalls darüber, ob es für kleine Kinder überhaupt so etwas wie sinnvolles Fernsehen gibt, oder ob nicht das Medium an sich frühestens mit der Einschulung genutzt werden sollte, aber auch dann nur für höchstens eine halbe Stunde am Tag. Dafür plädiert unter anderem der Psychiater Manfred Spitzer (siehe Interview auf Seite 3). Jedoch ist’s damit nicht genug: Wenn der Fernseher aus ist, fährt der Computer hoch, starren Kinderaugen auf den Gameboy, klingelt das Mobiltelefon. Spätestens in der vierten Klasse sind zwei Drittel aller Schüler Besitzer eines Handys, und es gibt Schulen, an denen es den Lehrern nicht gelingt, zumindest während des Unterrichts ein Telefonverbot durchzusetzen. Die Auswirkungen vollverkabelter, dauerinformierter Existenz auf Geist, Seele und Körper Erwachsener werden im Vergleich zu den Studien am Kinde so gut wie gar nicht thematisiert. Dabei geht es gar nicht um jene schrecklichen Beispiele völlig verwahrloster freaks, die Wochen und Monate vor dem Bildschirm sitzend ihre Existenz nurmehr als eine virtuelle begreifen können. Es geht vielmehr um ein weiteres Massenphänomen: um die „Diktatur der Ak-tualität“ (Kaltenbrunner). Diese Diktatur beginnt dort, wo selbst jene ständig auf dem neuesten Stand gehalten werden, die aus dem, was sie in Echtzeit aus allen Teilen der Erde vernehmen, gar keine Handlungen ableiten können oder müssen. Wie viele Millionen Stunden saßen die Deutschen vor den Fernsehern, um möglichst rasch den jüngsten Sprung in der Opferzahl eines Tausende von Kilometern entfernten Tsunami zu erfahren? Darin steckte kein Mitleid, sondern der Wahn, informiert sein zu müssen. Eine „Diktatur der Aktualität“ liegt aber auch in dem Trend, die Form mit dem Inhalt zu verwechseln. Man kann geradezu von einer Powerpoint-Seuche sprechen, die jeden ergriffen hat, der mit Hilfe zahlloser, sich bewegender Diagramme die Inhaltsleere seines Vortrags zu vertuschen sucht. Zuletzt ist auch das millionenfache Kurztelefonat („Stehe gerade an der Kasse bei Lidl“), beliebt auch als Kurzmitteilung (SMS), eine Spielform des Zwangs zum stündlichen Abgleich des neuesten Stands. Auf der Strecke bleibt dabei alles, was Zeit zum Reifen benötigt: im Bereich des Denkens das Durchdachte, im Bereich der Seele das Stabile. Der Halt: Das ist der Anruf, die Kurznachricht, die E-Post. Nicht erreichbar zu sein, nicht informiert zu werden, ist der Alptraum unserer Zeit. Nicht erreichbar zu sein, ist jedoch die Grundvoraussetzung, sich der Diktatur der Aktualität zu entziehen. Schöne neue Medienwelt: Wenn der Fernseher aus ist, fährt der Computer hoch, starren Kinderaugen auf den Gameboy, klingelt das Mobiltelefon foto: Picture-Alliance / OPS