War Deutschland während der Fußball-Weltmeisterschaft auch ein „Sommermärchen“, so kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, daß das Land eineinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich und politisch immer näher an einen Abgrund gerät. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts konnte der Schweizer Journalist Fritz René Allemann in einem vielbeachteten Buch noch zu Recht konstatieren: „Bonn ist nicht Weimar“. Für die Berliner Republik wird sich eine derartige Feststellung wohl kaum mit gleicher Gewißheit treffen lassen. Im Gegenteil – die krisenhaften Zeichen mehren sich. Alarmismus? „Alles kommt auf die Beleuchtung an“, heißt es bei Theodor Fontane. Erhellend ist es, die Verhältnisse einmal mit der marxistischen Analyselampe in Augenschein zu nehmen, denn daß das Sein in hohem Maße das Bewußtsein bestimmt, dürfte gerade in diesen Tagen kaum umstritten sein. Hierbei zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die „Basis“ (also das Wirtschaftssystem als die Grundlage des materiellen Seins) und auf den „Überbau“ (die parlamentarische Demokratie als Staatsform) so gravierende Fehlentwicklungen und so eklatante Führungsschwächen, daß mittlerweile der Bestand der gesamten staatlichen Ordnung gefährdet zu sein scheint. Zunächst zur Basis: Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums entwickelt sich die Marktwirtschaft unter den Bedingungen der rasanten Globalisierung zusehends zu jener ungezügelten Wirtschaftsordnung, wie sie einst Marx und Engels diagnostiziert hatten. Ihre Kennzeichen sind Rekordgewinne, Aktiensprünge an der Börse und zweistellige Erhöhungen der Millionengehälter von Unternehmensvorständen bei gleichzeitigen Massenentlassungen und dem Abbau Tausender von Arbeitsplätzen. Von Managern, die unter dem Diktat des shareholder value stehen, wird man freilich vergebens die Einhaltung sozial-ethischer Maßstäbe einfordern können. Objektiv sind sie zwar wie jeder Arbeiter und Angestellter abhängig von den jeweiligen Kapitaleignern, doch als „fungierende Kapitalisten“ sind sie Repräsentanten der Produktionsmittel und müssen gemäß der Logik des Kapitals handeln – also die menschlichen Produktivkräfte so einsetzen, daß im Interesse des Finanzkapitals maximaler Profit erwirtschaftet wird. Die Folge sind weit über 4 Millionen Arbeitslose, resultierend zum Teil auch aus Fehlentwicklungen und Management-Versäumnissen in Westdeutschland, zum Teil aus dem Zusammenbruch und Umbau der maroden Staatswirtschaft in Mitteldeutschland. Arbeitslosenraten von 20 bis 30 Prozent haben seit eineinhalb Jahrzehnten zur Verödung ganzer Landstriche in den neuen Bundesländern geführt, und ein Ende ist nicht in Sicht. Auch im Westen sind die Symptome der tiefen Krise nicht zu übersehen: Aus der einstigen „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) hat sich längst wieder eine Klassengesellschaft mit einer stets größer werdenden Unterschicht entwickelt; in den Abstiegsstrudel drohen auch immer mehr Angehörige des arrivierten Mittelstandes und der Akademikerschicht zu geraten. Diese ökonomischen und sozialen Verwerfungen, potenziert durch regellose Zuwanderung in die Wohlfahrtssysteme und durch dramatische demographische Veränderungen, haben die öffentlichen Haushalte mit einer Rekordverschuldung von jetzt 1,5 Billionen Euro an den Rand des Staatsbankrotts geführt. In allen demokratisch regierten Ländern stehen sich ein „linkes“ und ein „rechtes“ Lager gegenüber, die in ruhigen Zeiten einen Bürgerkrieg geistiger Art austragen. Doch das Klima wird um so erhitzter, je krisenhafter sich das Geschehen zuspitzt. Sollte dies tatsächlich die Wirtschaftsordnung sein, die den „Lebensinteressen des deutschen Volkes“ gerecht wird, wie es 1947 im Ahlener Programm der CDU hieß? 1972 konnte Rainer Barzel noch vollmundig allen Skeptikern entgegnen: „Jeder Arbeiter ist Unternehmer; alles andere ist von gestern.“ Im April 2005 indes schlug die Zeit Alarm: „Heute dürfte eine fast 30 Jahre alte Schätzung unvermindert gelten, wonach 1,7 Prozent der Haushalte mehr als 70 Prozent des Produktivvermögens besäßen. Prägnanter könnte man die Existenz von ‚Klassen‘, wie sie seit Adam Smith definiert wurden, kaum ausdrücken. Sogar die greifbaren Daten sprechen dafür: Die reichsten 10 Prozent der Haushalte in Deutschland besitzen 42 Prozent des Nettovermögens, während die unteren 50 Prozent zusammen nur über 4,5 Prozent verfügen.“ Während die Westdeutschen in den fünfziger und sechziger Jahren die Demokratie parallel zum „Wirtschaftswunder“ erlebten und sie somit als eine Staatsform erfuhren, die ihre Lebenssituation verbesserte, erging es den Mitteldeutschen Jahrzehnte später genau umgekehrt: Für sie war der Einzug der Demokratie begleitet von wachsender Arbeitslosigkeit und sozialer Degradierung. So wie im Westen die Enttäuschung darüber, daß die „freie und soziale Marktwirtschaft“ schon lange nicht mehr hält, was sie versprochen hat, dem politischen System angelastet wird, so ist es auch im Osten: Der Block der Nichtwähler wird ständig größer, die Volksparteien schrumpfen auf Werte zwischen 20 und 30 Prozent, Protestparteien von links- und rechtsaußen erhalten Zulauf. Damit aber stellt sich, wie für die Wirtschafts- und Sozialordnung, so auch hier die Systemfrage, denn eine bis dahin für unumstößlich gehaltene Wahrheit hat sich mittlerweile als Lebenslüge entlarvt: daß nämlich Demokratie die Voraussetzung und der Garant für ökonomischen Fortschritt sei. Den Gegenbeweis liefert der Niedergang im eigenen Land, das positive Gegenbeispiel sind Länder wie China. Angesichts zweistelliger Wachstumsraten im Jahr scheren sich deren Führer keine Deut um die ständigen Mahnungen aus dem Westen, die Menschenrechte einzuhalten oder zu gewähren; schließlich wissen sie, daß gemäß der Brechtschen Wahrheit auch in ihrem Volk vor aller Moral das Fressen kommt, und lassen daher die oberlehrerhaften Einmischungen ins Leere laufen. Im übrigen ist noch längst nicht ausgemacht, daß die Demokratie ein für alle Völker und Kulturen gleichermaßen geeignetes System ist. Von Aristoteles über Giambattista Vico bis Alexis de Tocqueville ist immer wieder auf die entscheidende Schwachstelle eines Denkens hingewiesen worden, das in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen das Mehrheitsprinzip zur Geltung bringen will. Der Kern der Kritik an der Herrschaft der größten Zahl bleibt dabei stets derselbe: „Was den großen Geistern die Gesellschaft verleidet, ist die Gleichheit der Rechte bei der Ungleichheit der Fähigkeiten“ (Schopenhauer). Wo das Mittelmaß regiert, kann sich das einsame Große nur schwer, wenn überhaupt, durchsetzen; wo das Große sich zu erheben wagt, wird es zurechtgestutzt. In Zeiten innerer und äußerer Ruhe mag ein Land relativ gut mit den Prinzipien der Demokratie fahren, gleichwohl sollte es zu denken geben, daß Deutschland – Bundesrepublik und DDR zusammengenommen – nach 1945, also in fast sechs Jahrzehnten, lediglich zwei Staatsmänner hervorgebracht hat: Konrad Adenauer und Helmut Schmidt. Allenfalls staatsmännische Momente mag man Willy Brandt (Berlin-Krise 1961, Ostpolitik) und Helmut Kohl (Wiedervereinigung) attestieren. In der neuen Berliner Republik ist bis heute noch niemand aufgetreten, der auch nur das Format eines jener Politiker hätte, die seinerzeit in der zweiten Reihe standen – wie Schumacher, Ollenhauer, Schmid, Wehner oder Strauß, Barzel, Weizsäcker, Biedenkopf. Ist die in Westdeutschland gewachsene Parteiendemokratie mit ihrem Klüngel- und Proporzwesen außerstande, politische Talente heranzuziehen? Offensichtlich. In Parlamenten, die in keiner Weise die Lebenswirklichkeit des Volkes widerspiegeln, sitzen mehrheitlich Beamte und Funktionäre. Und unter den jungen Leuten ist es Praxis geworden, sofort nach dem Studium, ohne je einen Beruf ausgeübt zu haben, über Listenplätze ins politische „Geschäft“ einzusteigen; sie leben, um ein Wort Max Webers zu zitieren, statt für die Politik von der Politik. Kein Wunder, daß unter derartigen Bedingungen die deutsche classe politique immer mehr selbst unter ein solides Mittelmaß fällt und das Land weit unter den Erfordernissen des Tages regiert wird. Das Schauspiel, das die gegenwärtige Große Koalition bietet, bestätigt diesen nicht neuen Befund: Trotz aller verfügbaren Mehrheiten zeigen ihre Protagonisten nicht den notwendigen Gestaltungswillen, sondern sind nur auf Zeitgewinn aus, um sich rechtzeitig vor den nächsten Wahlen gut positionieren zu können. Zu den subjektiven Schwächen kommen die objektiven Mängel des Systems: So steht der Regierung nicht das Parlament als Kontrolleur gegenüber, sondern die jeweilige Mehrheit stellt das Kabinett, so daß die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive aufgehoben ist. Auch der exzessive Föderalismus, das Verhältniswahlrecht, das klare Mehrheiten verhindert, sowie das Fehlen plebiszitärer Elemente auf Bundesebene haben ebenso wie der wuchernde Parteienstaat der Demokratie in Deutschland schweren Schaden zugefügt. Seit langem schon steht sich in allen hochindustrialisierten und demokratisch regierten Ländern die Bevölkerung in zwei großen Blöcken gegenüber, die man – wie vereinfachend und unscharf auch immer – als „linkes“ und als „rechtes“ Lager in jeweils allen Schattierungen von gemäßigt bis radikal bezeichnen kann. Zwischen diesen Lagern wird – mal leiser, mal lauter – ein Bürgerkrieg ausgefochten, der sich in ruhigen Zeiten auf geistiger Ebene abspielt. Doch das Klima wird desto erhitzter, je krisenhafter sich das Geschehen in Wirtschaft und Politik zuspitzt. Versagen die Kräfte der demokratischen Mitte bei der Bewältigung der Probleme, dann suchen sich die Probleme ihre eigene Lösung, denn im Schoß jeder Demokratie schlummern zwei Alternativen, die sich in ihrer Radikalität in nichts nachstehen. Die eine Alternative deutete Adolf Hitler an, als er am 27. Januar 1932 in einer Rede vor dem Düsseldorfer Industrieklub erklärte: „Das Privateigentum ist nur dann moralisch und ethisch zu rechtfertigen, wenn ich annehme, daß die Leistungen der Menschen verschieden sind. Dies zugegeben, ist es jedoch Wahnsinn zu sagen: Auf wirtschaftlichem Gebiet sind unbedingt Wertunterschiede vorhanden, auf politischem Gebiet aber nicht! Es ist ein Widersinn, wirtschaftlich das Leben auf dem Gedanken der Leistung, des Persönlichkeitswertes, damit praktisch auf der Autorität der Persönlichkeit aufzubauen, politisch aber diese Autorität der Persönlichkeit zu leugnen und das Gesetz der größeren Zahl, die Demokratie, an dessen Stelle zu schieben. Der politischen Demokratie analog ist auf wirtschaftlichem Gebiet aber der Kommunismus.“ Wenn es den Kräften der demokratischen Mitte nicht bald gelingt, den schlingernden Dampfer Deutschland wieder auf einen sicheren Kurs zu bringen, werden die extremen Flügel erstarken, deren Heilsversprechen für viele äußerst verführerisch klingen. Die faschistische Lösung ist somit die Übertragung des in Wirtschaft und Gesellschaft herrschenden Prinzips der Autorität der Persönlichkeit auch auf die politische Ebenen, mithin der Führerstaat. Während das Privateigentum, staatlich reguliert und kommandiert, in diesem Modell weiterexistiert, soll die Bevölkerung durch den Appell an das Nationale jegliches Klassenbewußtsein und allen Standesdünkel überwinden, um letztlich in einer homogenen „Volksgemeinschaft“ aufzugehen. Diesem Konzept eines „nationalen Sozialismus“ steht die andere kollektivistische Alternative diametral gegenüber. Sie beruht auf der Übertragung des demokratischen Prinzips der Regierungsform (diffamiert als „formale Demokratie“) auch auf die Wirtschaft und alle anderen gesellschaftlichen Bereiche, bis im Namen der Gleichheit die privaten Einzelinteressen in einer an einem fiktiven Gemeinwohl orientierten „klassenlosen Gesellschaft“ aufgegangen sind. Wie zerstörerisch auch dieser Weg selbst bei Zugrundelegung bester Absichten ist, zeigt die Entwicklung in Deutschland seit den siebziger Jahren. Als Willy Brandt seine Regierung 1969 unter das Motto „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ stellte, griffen die 68er diesen Appell auf und begannen ihren „Marsch durch die Institutionen“. Unter den Resultaten hat das Land bis heute zu leiden: Es wurden durch die Politisierung und Vergesellschaftung alles Privaten nicht nur Werte wie persönliche Autorität, Disziplin, Fleiß, Pflicht etc. in Frage gestellt, sondern Schulen und Universitäten erlitten irreparablen Schaden. Daß Deutschland seinen Rang als wissenschaftliche Führungsmacht längst verloren hat, liegt nicht daran, daß begabten Kindern aus ärmeren Elternhäusern zu wenige Chancen eingeräumt werden. Die Misere beruht vielmehr auf einem gleichmacherischen Bildungssystem, das die Leistungsanforderungen ständig nach unten schraubt. Hätten die linken Bildungsideologen recht, wäre es völlig unerklärlich, wieso das wilhelminische Deutschland Nobelpreisträger am Fließband hervorgebrachte. Die Demokratisierungskampagne hat auch im Wirtschaftssektor zu äußerst negativen Folgen geführt. Durch weitreichende gewerkschaftliche Mitbestimmungsrechte, die es so in keinem anderen kapitalistischen Land gibt, geraten noch heute große Industriekonzerne wie beispielsweise VW in existentielle Schwierigkeiten, weil notwendige unternehmerische Entscheidungen blockiert werden. Angela Merkel war angetreten, diesen verderblichen Kurs zu stoppen. Unter dem Regierungsmotto „Mehr Freiheit wagen!“ wollte sie eine Wende einleiten, tatsächlich aber hat sich die Union aus programmatischer Schwäche dem linken Zeitgeist angepaßt und die Freiheit des einzelnen weiter eingeschränkt. Wenn es den Kräften der demokratischen Mitte nicht bald gelingt, den schlingernden Dampfer Deutschland wieder auf einen sicheren Kurs zu bringen, werden die extremen Flügel erstarken, deren Heils- und Erlösungsversprechen für viele äußerst verführerisch klingen. Auch wenn ihre kollektivistischen Konzepte schon einmal im Totalitarismus geendet haben, ist noch längst nicht ausgemacht, daß der europäische Bürgerkrieg , der 1917 begann, 1989/90 auch wirklich schon zu Ende gegangen ist. Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Foto: Jean-François Millet, Blatt mit drei Motiven: eine Frau, Wäsche aufhängend, ein sich ausruhender Arbeiter und ein sitzender Bauer, Radierung (1848): Längst ist die Klassengesellschaft nach Deutschland zurückgekehrt