Wäre die demokratische Toleranz aufgehoben worden, als die „künftigen Führer mit ihrer Kampagne anfingen, so hätte die Menschheit eine Chance gehabt, Auschwitz und einen Weltkrieg zu vermeiden“, schrieb Herbert Marcuse, Spiritus rector der 68er, vor gut 40 Jahren in seiner einflußreichen Schrift „Repressive Toleranz“. „Wahre Befriedung“ erfordere folglich, daß die Toleranz vor der Tat entzogen werde: nämlich „auf der Stufe der Kommunikation in Wort, Druck und Bild“. Gerechtfertigt hielt Marcuse diese Maßnahmen allerdings nur dann, wenn die „Gesamtgesellschaft in äußerster Gefahr“ sei. Daß im Umgang mit der „jüngeren deutschen Vergangenheit“ der Ausnahmezustand längst der Normalzustand ist, daran hat sich der Bundesdeutsche mittlerweile gewöhnt. Er wird selbst von einem Vorstoß nicht mehr aus der Lethargie gerissen, der tatsächlich allen Anlaß zur Besorgnis gibt. Am Freitag letzter Woche ließ Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) verlauten, daß Rechtsextremisten nicht von „Strafbarkeitslücken“ profitieren dürften. Sie sollten „nicht ungestraft ein menschenverachtendes System rühmen oder verharmlosen können“. Die „Grenze der Meinungsfreiheit“ sei überschritten, wenn „unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit die Opfer des Holocaust verhöhnt oder die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft verherrlicht oder verharmlost und dadurch der öffentliche Friede gefährdet wird“. Wie in Zukunft „Verharmlosung“ und „Verhöhnung“ verhindert werden sollen, erläuterten Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und Zypries am Freitag letzter Woche. Mit einer entsprechenden Gesetzesinitiative soll ein von der NPD geplanter Aufmarsch am 8. Mai in Berlin vereitelt werden. Der „befriedete Bezirk“ sei in Richtung Brandenburger Tor und Holocaust-Mahnmal zu erweitern. Auf diese Weise könnten an diesen Orten Demonstrationen leichter verboten werden. Hintergrund für diese Initiative ist der Aufruf der NPD zu einer Kundgebung unter dem Motto „Schluß mit der Befreiungslüge“ zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, die durchs Brandenburger Tor führen und dabei auch das Holocaust-Mahnmal passieren soll. Stellt bereits diese Initiative eine empfindliche Beschneidung des Versammlungsrechtes dar, die die FAZ in Anspielung auf den NPD-Fraktionsvorsitzenden im sächsischen Landtag, Holger Apfel, als „Lex Apfel“ bezeichnete, dann sprengt die geplante Verschärfung des Paragraphen 130 StGB jegliches Maß. Der Tatbestand der „Volksverhetzung“ soll durch einen Absatz 4 ergänzt werden, in dem das „öffentliche“ oder in einer Versammlung erfolgte „Verherrlichen und Verharmlosen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft“ dann unter Strafe gestellt wird, „wenn dieses geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Durch diese Neuregelung sollen – wird diese Ergänzung in der vorliegenden Form geltendes Recht – auch schwere Unrechtshandlungen erfaßt werden, „die unterhalb der Schwelle von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegen“. Die Neuregelung will eine Gesetzeslücke schließen, denn nach Paragraph 130 StGB Absatz 3 in der geltenden Fassung ist nur „das Billigen, Leugnen oder Verharmlosen“ von unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Handlungen wie „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ strafbewehrt. „Verherrlichung“ oder „Verharmlosung“ liegen nach Zypries bereits dann vor, wenn „öffentlich“ zum Beispiel behauptet wird, daß es „den Zwangsarbeitern im Dritten Reich ganz gutgegangen sei, weil sie doch Arbeit und Unterkunft gehabt“ hätten. Alle diese Maßnahmen sollen angeblich dem „öffentlichen Frieden“ dienen, der laut Zypries dann gestört sei, „wenn eine allgemeine Beunruhigung der Bevölkerung innerhalb Deutschlands, mindestens aber unter einer nicht unbeträchtlichen Personenzahl eintritt“. Wann das der Fall ist, unterliegt einer subjektiven Bewertung und wird aller Erfahrung nach entsprechend extensiv ausgelegt werden. Im Zweifelsfall dürfte eine entsprechende Wortmeldung durch ein Mitglied des Zentralrates der Juden hinreichend sein. Nun könnte man sich nach dem Motto „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“ erst einmal zurücklehnen und abwarten, ob diese Gesetzesergänzung wie geplant in abenteuerlich kurzer Zeit noch vor dem 8. Mai in Kraft treten wird. Andere werden sich möglicherweise damit beruhigen, daß hier das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in verfassungswidriger Weise eingeschränkt und das Gesetz deshalb keinen Bestand haben wird. Diese Hoffnung hat bereits bei der Neufassung des Volksverhetzungsparagraphen im Jahre 1994 getrogen. Der Rechtswissenschaftler Josef Schüßlburner stellte damals in einer kritischen Würdigung dieser Neufassung Analogien zu Art. 6 Absatz 2 der DDR-Verfassung aus dem Jahre 1949 her. In diesem stand u.a. zu lesen: „Bekundung von Glaubens-, Rassen-. Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches.“ Schüßlburner befürchtete, daß der „Volksverhetzungstatbestand“ in der Bundesrepublik bald eine ähnliche Rolle spielen könnte wie derjenige der „Boykotthetze“ in der ehemaligen DDR. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit mutierte in einem derartigen Fall in ein Instrument zur Gehorsamserzwingung nach DDR-Grundrechtsverständnis. Der Weg in den Ideologiestaat wäre damit endgültig geebnet. Wer in dieser Situation seine Hoffnungen auf die Opposition in Gestalt der Unionsparteien setzt, baut wieder einmal auf Sand. Die Reaktionen aus der Union zeigen, daß diese aus dem sogenannten Aufstand der Anständigen, der im Kern auch gegen sie gerichtet war, nichts gelernt hat. Die Union im Bundestag ließ verlauten, ihr gingen die Gesetzesvorschläge „nicht weit genug“. Einzig die FDP mutmaßte, daß die angekündigte Gesetzesinitiative „verfassungswidrig“ sein könnte. Daß mit diesen Gesetzesinitiativen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit bei Streitpunkten der jüngeren deutschen Geschichte faktisch abgeschafft wird, ist in Berlin offensichtlich kein Thema. Der Philosoph Max Stirner war der Auffassung, im Liberalismus stehe dem Menschen stets der Unmensch (heute: der „Rechtsextremist“) zur Seite. Er mutmaßte, daß wir uns in einer Situation befänden, wo sich „Mensch und Unmensch streng geschieden als Feinde“ gegenüberstünden. Daß bei der Bekämpfung von „Unmenschen“ der Zweck häufig alle Mittel heiligte, dafür bietet die Geschichte Beispiele genug.