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Marc Jongen, ESN Fraktion

Ein Land versinkt in Anarchie

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Am 3. April 2003 erreichten die US-amerikanischen Truppen Bagdad. Schon am 9. April befand sich das Stadtzentrum unter der Kontrolle der US-Streitkräfte. Damit endeten die offiziellen Kampfhandlungen. Von diesem Zeitpunkt an begann das, was die Amerikaner „low intensity war“ nennen, sprich: ein schmutziger Kleinkrieg, der bis heute anhält und mehr und mehr Opfer fordert. Letztes Wochenende demonstrierten in Bagdad Zehntausende Iraker – in der Mehrheit Schiiten – und verlangten den Abzug der US-Truppen. Sie verbrannten Puppen von US-Präsident George W. Bush und dem Ex-Diktator Saddam Hussein. Sie schwenkten wieder irakische Flaggen, skandierten Parolen wie: „Nein zum Terrorismus!“, „Nein zu Amerika!“ Noch ist es allerdings zu keinem breiten Aufstand der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gekommen. Doch seit Schiiten-Führer Muktada al-Sadr im Frühjahr 2004 zum aktiven Widerstand gegen die amerikanischen Besatzer und ihre Alliierten aufrief, schnellen deren Verluste spürbar in die Höhe. Von den Kriegszielen, die die USA offiziell nach Angaben ihres Verteidigungsministers Donald Rumsfeld verfolgten, haben sich nur wenige erfüllt. Zwar konnte Saddam Husseins Regime ausgeschaltet sowie viele seiner engsten Mitarbeiter gefaßt werden. Doch konnten weder irakische Massenvernichtungswaffen noch deren Trägersysteme und Produktionsstätten gefunden werden. Die Terroristen, die im Irak Zuflucht gefunden haben sollten, wurden mit Ausnahme des radikalen Palästinenserführers Abu Abbas nicht aufgespürt. So hat – im Gegenteil – die instabile Situation nach 2003 wahrscheinlich mehr Terroristen in den Irak gelockt, als dort unter der rigiden Herrschaft Saddam Husseins lebten. Konkrete Zahlen dazu kann jedoch nicht einmal die US-Besatzungsmacht präsentieren. Fast 1.700 gefallene und 10.000 verwundete Alliierte Dieser mageren Bilanz stehen laut Schätzung bis März 2005 Kosten in Höhe von 79 Milliarden US-Dollar für den Krieg und seine Folgen gegenüber. 62,6 Milliarden US-Dollar haben die USA an reinen Kriegskosten aufgewendet. Auf Großbritannien entfallen 3 Milliarden Pfund (4,5 Milliarden Euro). Laut einer UN-Schätzung wird der Wiederaufbau des Irak allein in den ersten drei Jahren mindestens 28 Milliarden Euro kosten. 300.000 alliierte Soldaten sind derzeit im Irak im Einsatz, darunter etwa 255.000 US-Amerikaner, 45.000 Briten und 2.000 Australier. Bis zum offiziell erklärten Ende größerer Kampfhandlungen am 1. Mai 2003 verloren die Alliierten laut eigener Angaben 171 Soldaten, davon 138 US-Amerikaner und 33 Briten. Danach fielen bis März 2005 1.689 Koalitionssoldaten, und 9.766 US-amerikanische Soldaten wurden verwundet (davon etwa 5.200 Schwerverletzte und Invaliden). Die Verlustschätzungen für die Zivilisten fallen sehr unterschiedlich aus: Sie schwanken zwischen etwa 17.000 und 100.000 (Studie der Johns Hopkins University von Oktober 2004 ohne Falludscha). Während des Krieges sollen etwa 15.000 Präzisionsbomben, 8.000 ungesteuerte Sprengkörper und 800 Marschflugkörper bei 30.000 Einsätzen eingesetzt worden sein. Nach einer Studie des Brookings Institute verlor die US-Armee nach Beginn des Irak-Krieges im März 2003 überdies mindestens 33 Hubschrauber. Kompensiert werden müssen des weiteren diejenigen Verluste, die der Widerstand im Kampf gegen sogenannte „Kollaborateure“ verursacht. So kam es zu zahlreichen Mordanschlägen gegen hohe Repräsentanten der Übergangsregierung: – am 17. Mai 2004 auf den Vorsitzenden des irakischen Übergangsrats, Issedin Salid – am 12. Juni 2004 auf den Vize-Außenminister der irakischen Übergangsregierung, Bassam Kuba – am 13. Juni 2004 auf den Direktor der Kulturabteilung des irakischen Erziehungsministeriums, Kamal el Dscharra – am 14. Juli 2004 auf den Gouverneur der nordirakischen Region Ninive, Osama Kaschmula – am 16. Juli 2004 auf den Chef des Sicherheitsdienstes des irakischen Außenministeriums, Idris Karim Ramadan – am 1. November 2004 auf den Vizegouverneur von Bagdad, Hatem Kamel Abdel Fattah al-Bajati – am 16. Dezember 2004 auf den Leiter der staatlichen Gesellschaft für Telekommunikation und Postwesen, Kassem Mihaui – im Januar 2005 auf den Bagdader Provinzgouverneur Ali Al-Haidri und den stellvertretenden Polizeichef der Hauptstadt, Amer Ali Najef. Hinzu kommen fast täglich Morde an Polizisten, Wachleuten oder einfachen Fahrern für US-Konvois und Übersetzern, die für die Besatzer arbeiten. Hier ist das Massaker an 49 Rekruten der Nationalgarde am 23. Oktober 2004 durch die al-Qaida al-Dschihad fi Bilad al-Rafidain in Dijla nur ein besonders schreckliches Beispiel. Die Pläne des irakischen Finanzministers Kamel al-Gailani, der der US-Regierung durch weitreichende Privatisierungsbeschlüsse entgegenkommen will, dürften den Widerstand erheblich mobilisiert haben. Diese Vorhaben bergen jede Menge Zündstoff unter anderem auch deshalb, weil die frühere irakische Verfassung ausländische Anteile an irakischen Firmen vollkommen verbot. Weiter ist geplant, daß Ausländer schon bald irakische Unternehmen vollständig übernehmen können. Die Profite der Investoren, ihre Dividenden, Zinsen und Tantiemen dürfen vollständig und sofort in die Ursprungsländer überwiesen werden. Grundeigentümer des Landes – insbesondere die Ölvorkommen – dürfen bis zu vierzig Jahre an ausländische Firmen verpachtet werden. Ferner sollen die Investitionen nicht überprüft werden und keinerlei Beschränkungen unterworfen sein sowie im Finanzsektor ausländische Banken innerhalb von fünf Jahren irakische Banken bis zu einhundert Prozent übernehmen dürfen (derzeit fünfzig Prozent). Die Steuern sind in diesem Jahr noch weitgehend ausgesetzt, aber ab Beginn nächsten Jahres sollen jeweils maximal 15 Prozent Einkommens- und Gewerbesteuer erhoben werden. Abgesehen von „humanitären Gütern“ werden auf alle Importe fünf Prozent für den „Wiederaufbau“ aufgeschlagen. Selbst die irakische Zentralbank soll privatisiert werden. Laut Florian Rötzer im Internetmagazin Telepolis vom 19. März 2005 zählte wohl zu den ursprünglichen Kriegszielen der USA, die irakische Ölindustrie zu privatisieren. Damit sollte die Macht der Opec gebrochen werden, weil so die Fördermengen über die von der Opec beschlossenen Quoten heraufgesetzt werden könnten und damit das Öl billiger würde. Der Verkauf soll kurz vor dem Krieg während eines Geheimtreffens in London unter dem Vorsitz des damaligen Pentagon-Lieblings Achmed Tschalabi beschlossen worden sein. US-Besatzung wird noch zehn Jahre oder länger andauern Der geplante Ausverkauf des Öls auch an ausländische Konzerne habe der Befürchtung Vorschub geleistet, daß die Ressourcen des Landes an „reiche Milliardäre“ übergeben werden, während die Iraker arm bleiben. Man habe daraufhin eine Zunahme der Angriffe auf die Öl-Infrastruktur beobachten können. Bis auf weiteres sind diese Privatisierungspläne ins Stocken geraten. Überdies mußten die USA zur Kenntnis nehmen, daß der russische Konzern Lukoil einen Vertrag für ressourcenreiche Ölfelder besitzt, der noch aus Saddams Zeiten stammt. ConocoPhillips hat sich laut Rötzer unterdessen aber bei Lukoil eingekauft und hofft so ebenso wie Lukoil durch diese Verbindung auf Geschäfte mit dem irakischen Öl. Der Widerstand hat weiter von den Foltern und Mißhandlungen im Abu-Ghuraib-Gefängnis profitiert. Im Mai 2004 gelangten Berichte und Fotos in die Medien, die belegten oder belegen sollten, daß US-amerikanische Militär- und Geheimdienst-Mitarbeiter Gefangene im Abu-Ghuraib-Gefängnis nahe Bagdad gefoltert haben. Hinzu kommt eine Reihe von Todesfällen. An den Folterungen sollen nach Angaben eines US-Wissenschaftlers auch Ärzte beteiligt gewesen sein. Diese hätten mit ihrem Verhalten gegen ethische Werte der Medizin verstoßen und Menschenrechte verletzt, schreibt der amerikanische Bioethiker Steven Miles im Fachmagazin The Lancet. Der Doktor der Medizin und Professor an der Universität von Minnesota verlangte eine offizielle Untersuchung über die Rolle der Ärzte beim Folterskandal – ohne Konsequenz. Zum Synonym für den Widerstand ist Falludscha geworden. Die fast 300.000 Einwohner der Stadt wurden durch die US-Belagerung aus ihren Häusern vertrieben. Ein Bericht des Flüchtlings-Hochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) meldete Anfang des Jahres, daß zwar 85.000 von ihnen zurückgekehrt seien und die Kontrollpunkte der US-Armee passierten, aber nur 3.000 über Nacht in der Stadt blieben. Die überwältigende Mehrheit fand ihre Häuser in Schutt und Asche vor. In der Stadt sind Strom und Wasser abgestellt und die Krankenhäuser geschlossen. Laut einer Zusammenfassung des UNHCR-Berichts über Falludscha wurden „vierzig Prozent der Häuser komplett zerstört, zwanzig Prozent hatten große und vierzig Prozent erhebliche Schäden“. Bis heute hat sich die alliierte Besatzungsmacht als unfähig erwiesen, den irakischen Widerstand zu brechen oder auch nur das Zentrum von Bagdad zu sichern. Nichts deutet darauf hin, daß das tägliche Töten aufhören wird. Amerikanische Politiker und Militärführer sprechen mittlerweile von einer Besatzung, die zehn Jahre oder länger dauern könnte. Das tägliche Leben des irakischen Volkes ist nach wie vor katastrophal: Millionen Menschen sind arbeitslos, grundlegende Dienstleistungen wie Strom, Wasser und sanitäre Einrichtungen liegen darnieder. Das spüren mehr und mehr auch die Verbündeten der USA. Zuletzt beschloß die bulgarische Regierung Ende März den Abzug ihrer 450 Soldaten bis zum Jahresende. Die bulgarische Regierung wolle über „geeignetere Formen“ der Beteiligung verhandeln, teilte Regierungssprecher Dimitar Zonew in Sofia mit. Es wird damit gerechnet, daß das Parlament den Truppenabzug billigen wird. Bisher wurden acht bulgarische Soldaten im Irak getötet, der letzte Anfang März durch versehentliches US-Feuer. Im Irak wird nicht nur unausgesetzt getötet, das Land ist auch Schauplatz einer ausufernden Korruption und offenen Diebstahls durch Rüstungslieferanten mit politischen Beziehungen: l Buchprüfer des Pentagon beschuldigten die Firma Halliburton, deren Vorstandsvorsitzender früher Vizepräsident Dick Cheney war, sie habe der US-Regierung 108 Millionen Dollar zuviel für Treibstoffimporte in den Irak in Rechnung gestellt. In einem Fall hatte die Firma 27 Millionen Dollar für den Transport von Flüssiggas verlangt, das sie für nur 82.000 Dollar in Kuwait gekauft hatte. Die Überprüfung war schon im Oktober abgeschlossen, wurde von der Regierung aber bis nach der Novemberwahl zurückgehalten. l Ein Angestellter der Halliburton-Tochtergesellschaft Kellog, Brown & Root (KBR) wurde Anfang April in einem Fall von Bieterbetrug angeklagt, bei dem einem kuwaitischen Auftragnehmer fast fünf Millionen Dollar zuviel für Öltanker bezahlt worden waren. Der KBR-Angestellte wird beschuldigt, für die Einfädelung dieses Deals eine Million Dollar Bestechungsgeld erhalten zu haben. l Transparency International, eine von ehemaligen Weltbank-Mitarbeitern geleitete Kontrollgruppe, warnte in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, der Irak werde noch „zum größten Korruptionsskandal der Geschichte“. Die Rekrutierung neuer Soldaten stockt Nicht glaubwürdiger ist die Behauptung, die irakischen Wahlen vom 30. Januar hätten die Politik der Bush-Regierung bestätigt und seien ein Fortschritt in Richtung Demokratie für die ganze Region. Wahlsieger waren Parteien, die schiitischen Geistlichen nahestehen und islamisches Recht einführen wollen, und kurdische Führer, die unbedingt eine halbautonome ethnische Enklave im Norden kontrollieren wollen, zu der auch die multiethnische Stadt Kirkuk mit ihren Ölfeldern gehören soll (JF 05/05). Das ist kaum die Formel für eine demokratische Lösung der komplexen historischen Probleme des Irak. Das Parlament, das aus dieser Wahl hervorgegangen ist, war bisher nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden, und übt keinerlei Macht aus. Seine Eröffnungssitzung führte aller Welt die wirklichen Machtverhältnisse vor Augen: Sie fand in der schwer bewachten und US-kontrollierten Grünen Zone statt, und im Luftraum darüber kreisten amerikanische Kampfhubschrauber. Die jüngste Umfrage von der Washington Post und ABC News ergab, daß 53 Prozent der Amerikaner der Meinung sind, der Irak-Krieg lohne den Einsatz nicht, und siebzig Prozent meinten, 1.500 tote amerikanische Soldaten seien ein unakzeptabler Preis. Eine große Mehrheit der Befragten sagte, die Stellung und das Ansehen der USA in der Welt habe durch den Krieg gelitten. Trotz finanzieller Lockangebote von bis zu 20.000 Dollar stockt auch die Rekrutierung neuer Soldaten für die US-Streitkräfte. So konnten in den letzten Monaten die US-Marineinfanteristen gerade noch ihr Rekrutierungssoll erfüllen. Doch schon bei den anderen im Irak eingesetzten Truppen, der Luftwaffe und dem Heer, erreicht die Quote nur mehr ein Drittel bis zur Hälfte der für eine längere Besatzung notwendigen Stärke. Die USA geben gegenwärtig fast fünf Milliarden Dollar im Monat für den Irak-Krieg aus. Gleichzeitig bereitet die Regierung massive Einschnitte bei der Krankenversorgung Medicaid und anderen wichtigen Sozialleistungen vor, während der Senat vor kurzem eine weitere Steuersenkung von 134 Milliarden Dollar für besser verdienenede Amerikaner beschloß. Stichwort: Macht im Irak Nach den Ergebnissen der Wahl vom 30. Januar wurde der Kurdenführer Dschalal Talabani von der Mehrheit der 275 Abgeordneten des von der schiitischen United Iraqi Alliance (UIA) mit 140 Sitzen dominierten Parlaments zum irakischen Präsidenten, der Schiit Adel Abdel Mahdi zu dessen Stellvertreter gewählt. Der Vertreter des sunnitischen Bevölkerungsteils, Ghasi al-Jawar, der als weiterer Stellvertreter vorgesehen war, hatte Ende März offiziell verkündet, er werde für das Amt nicht zur Verfügung stehen. Talabani hat unmittelbar nach seiner Wahl den künftigen Regierungschef, den Schiiten Ibrahim al-Dschaafari, mit der Regierungsbildung beauftragt. Faktisch wird jedoch von den alliierten Besatzungsmächten Einfluß über vorherige Günstlinge aus der Übergangsregierung angestrebt. So ist zum Beispiel Achmed Tschalabi als Stellvertreter al-Dschaafaris im Gespräch. Doch auch nach einer Konstituierung der irakischen Regierung werden die Alliierten durch ihre massive Truppenpräsenz und die Kontrolle über die verläßlichste Einnahmequelle des Landes – des Öls – im wesentlichen die Politik bestimmen. Auch demokratische Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit werden weiterhin von diesen kontrolliert.

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