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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Du bist alles

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Es ist nicht bloß Krisenstimmung, die Deutschland im Griff hat, es handelt sich um Endzeitstimmung, um Lethargie und Fatalismus. Die alte Bundesrepublik, die sich über Jahrzehnte durch das Wirtschaftswunder definierte und sich noch 1990 die DDR einverleiben konnte, ohne in eine Phase der Selbstreflexion eintreten zu müssen, ist an ihr Ende gekommen. Selbst die Aussage, die vor zehn oder fünfzehn Jahren als revolutionär galt, es gebe keine Zuwächse mehr zu verteilen, man müsse sich mit dem Erreichten bescheiden und es halt effektiver verteilen, klingt wie die Botschaft aus einer fernen, goldenen Vergangenheit. Inzwischen weiß jeder, daß die Situation viel ernster ist. Der Wohlstand, der private wie der staatliche und kommunale, schmilzt seit Jahren rapide dahin. Jeder Durchschnittsverdiener kann das in der Geldbörse nachzählen und an der Verwahrlosung öffentlicher Räume ablesen. Der ökonomische Abstieg hat sich zum Gefühl allgemeiner Zukunftslosigkeit ausgeweitet. Es gibt Zweifel, ob Deutschland als politisches und soziales Gebilde, als Sprach- und Kulturgemeinschaft auf mittlere Sicht überhaupt noch Bestand hat. Dieser Fatalismus führt geradewegs zu der allgemeinen Immobilität, die sich im Ergebnis der letzten Bundestagswahl niedergeschlagen hat. Jeder hält krampfhaft an den Besitzständen fest, über die er gerade noch verfügt, obwohl voraussehbar ist, daß sie in diesem Klammergriff um so sicherer zerbröseln. Vor diesem Hintergrund wird die von Medienkonzernen inszenierte Kampagne „Du bist Deutschland“ verständlich, die dem braven Bundesbürger, der seine Persönlichkeit, wie das ungeschriebene Gesetz es befahl, aus den Zutaten des Individualismus und Postnationalismus modellierte, einen Mangel an Patriotismus attestiert. Dieser Mangel sei ursächlich für die aktuellen Depressionen und Probleme des Landes. Da ist einiges dran! Sicher, es wird hart an der Debilitätsgrenze argumentiert, und wer Belege für die Stimmungsschwankungen sucht, die den deutschen Volkscharakter angeblich prägen, hier findet er sie en masse. Hieß es eben noch, stolz könne man nur auf das sein, was man selber geleistet habe, erfahren jetzt alle, sie seien Einstein, selbst wenn sie nicht bis drei zählen können. Bei angestrengt locker-flockigen Sätzen wie: „Du hältst den Laden zusammen. Du bist der Laden“, packt den Zuschauer blankes Entsetzen: Ich – bin Laden? Das Kurzschließen der unbekannten Klofrau mit dem millionenschweren Fußballer Oliver Kahn beschwört eine alle Klassen und Schichten transzendierende Volksgemeinschaft. Außerdem sind Kahn und der Autofahrer Michael Schumacher, der immer die Kurve kriegt, seine Steuern im Ausland zahlt und trotzdem dem normalen Arbeitnehmer den geraden Weg zeigt, nicht deswegen so reich, weil sie soviel leisten, sondern weil ihre Leistungen zufällig marktkompatibel sind. Das wirft die Frage nach der Zielrichtung der Kampagne und nach den politischen, ethischen und kulturellen Grundlagen des Gesellschaftsmodells auf, das sie propagiert. Das Krisengefühl wird als Ausdruck falschen Bewußtseins gedeutet, anstatt seinen materiellen und immateriellen Wurzeln nachzugehen. Der Patriotismus, der sich hier äußert, ist zu primitiv, um ernst genommen zu werden. Trotzdem ist die Kampagne ein interessantes Indiz. Wenn Medienkonzerne wie Bertelsmann, die international vernetzt sind, nun die Rückwendung zum eigenen Land beschwören, tun sie das nicht aus Sentimentalität oder Altruismus, sondern aus Einsicht in eine für sie überraschende Dialektik. Offensichtlich hört ein Land, das sein Selbstverständnis auf einen Standort reduziert, an dem sich frei flottierende Konsumenten versammeln, schneller als gedacht auf, als Standort und Absatzmarkt interessant zu sein. Der Versuch, das Leben nach betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen zu organisieren, läßt es verkümmern und schließlich sogar unter ökonomischen Gesichtspunkten uninteressant werden. Nun soll sein, was 1990 nicht sein durfte: „Du bist Deutschland.“ Die Aussage ergibt nur einen Sinn, wenn sie als unterschwelliger Appell verstanden wird, der die Grenzen des Ökonomismus überschreitet: Mach was draus! Sei stolz drauf! Erweise Dich würdig! Die deutschen Probleme sind gar nicht so einzigartig. Die globale Ökonomie, der Wanderungsdruck, die inneren Widersprüche moderner Gesellschaften wirken in unterschiedlichen Abstufungen auch in anderen westlichen Ländern. Spezifisch für Deutschland ist ihre Wendung ins Grundsätzliche, in das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Dadurch werden die zur Gegenwehr benötigten Energien absorbiert. Für dieses Gefühl gibt es keine echten Gründe, aber handfeste politisch-mentale Anlässe, die sich auch in der Ikonographie des „Du-bist-Deutschland“-Fernsehspots widerspiegeln, der zum Schluß das Berliner Holocaust-Denkmal zeigt. Während einerseits signalisiert wird, daß Deutschland sich seine Neurosen nicht mehr leisten kann und zur psychischen Normalität finden muß, andernfalls man „den Laden“ über kurz oder lang schließen kann, wird die als notwendig anerkannte Normalität andererseits als etwas Unerlaubtes denunziert. Aufgelöst wird dieser Widerspruch nicht. Die Kampagne bleibt der geschichtspolitischen Konstellation verpflichtet, die für die Mißstimmung mitverantwortlich ist, die sie bekämpfen will. Der Aufruf zur mentalen Mobilmachung wirkt deshalb wie ein letztes Aufgebot. Es müßten ganz andere, prinzipielle Fragen aufgeworfen werden, zum Beispiel: Was haben die verantwortlichen Herrschaften denn geglaubt, wohin ihr nationalmasochistischer Dauerbeschuß, die Tätervolk-Idiotie und das Klima des Verdachts das Land führen würden? Ein Staatsvolk, dem permanent seine historische Minderwertigkeit vorgehalten wird, zerfällt in Moleküle, die zwischen Angst und Egoismus hin- und hergerissen werden und deren soziale Phantasie sich auf das Abfassen von Transferleistungen beschränkt. Wo kollektive Selbstverachtung regiert, sind die mentalen Grundlagen für Verantwortungsgefühl, für die Pflege des Erbes und die Sorge um künftige Generationen entfallen. Ein Verleger und Initiator der Kampagne tönte in der Sprache des neuzeitlichen Barbaren: „Wir brauchen in Deutschland wieder ein spirit von risk taking.“ Was für eine Verarmung gegenüber dem Geist, der den Leser aus dem Gedicht „Deutschland 1952“ anweht: „Und hätt’st so schöne Auen / Und reger Städte viel; / Tät’st Du dir selbst vertrauen / Wär alles Kinderspiel.“ Sein Verfasser, Bertolt Brecht, hatte nie aufgehört, sein Land und seine Sprache zu lieben.

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Marc Jongen, ESN Fraktion
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