In einem Referat vor dem Bergedorfer Gesprächskreis sprach Richard von Weizsäkker zum Thema „neue Mitte“. Wesentlich ging es ihm darum, die Vorstellung zurückzuweisen, daß eine „neue Mitte“ in Reaktion auf den gesellschaftlichen Strukturwandel entstanden sei; „neue Mitte“, so Weizsäcker, gebe keine brauchbare Bezeichnung für ein politisches Lager her, es handele sich nur um ein „Schlagwort“, einen „der in der Politik üblichen Etikettenschwindel“. Das war 1973 und polemisch gewendet gegen Erhard Eppler, der den überraschenden Wahlerfolg der Sozialdemokratie im Jahr zuvor damit erklären wollte, daß Willy Brandt eine „neue Mitte“ für sich und die Ideen der SPD gewonnen habe. „Neu“ insofern, als die „alte Mitte“ erledigt sei, und „Mitte“ insofern, als diesseits und jenseits des Zentrums Radikalismen unerwarteten Zulauf erhielten. Gemeint war vor allem die „neue Linke“; von einer „neuen Rechten“ wurde zwar gelegentlich gesprochen, aber sie spielte kaum eine Rolle. „Neue Mitte“ sollte Abstand vom Radikalismus signalisieren, Distanz zum Utopischen, und den Beunruhigten ein Gefühl der Sicherheit geben. Sehr erfolgreich war das aber nicht, und die Formel verschwand rasch aus den politischen Diskussionen. Sie kehrte erst unter völlig anderen Bedingungen wieder: nach dem Ende des 20. als des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Ralf Dahrendorf) und dem Kollaps des Ostblocks. Schon 1991 führte die FDP eine Tagung zum Thema durch, weil man in ihren Reihen glaubte, der natürliche Fokus entsprechender Tendenzen zu sein: Kern der „politischen“, „aktiven“ und – sogar – „theoriefähigen“, weil „aristotelischen“ Mitte, die nach dem Scheitern der „Extreme“ als selbstverständlicher Sieger auf dem Platz blieb. Aber den Liberalen gelang es nicht, den Begriff dauerhaft zu besetzen, denn die „neue Mitte ist eine linke“ (Otto Schily). In Deutschland hatte vor allem Gerhard Schröder die Parole aufgenommen und damit seinen ersten Wahlsieg auf Bundesebene erfochten. Das war symptomatisch insofern, als Schröder – typischer Vertreter der Achtundsechziger – von ganz links kam, indes verstanden hatte, daß sich ein genuin linkes Programm kaum noch durchsetzen ließ. Der Endsieg des Westens bedeutete die Alternativlosigkeit von Parlamentarismus, Kapitalismus, Bindung an die USA. All die schönen Träume von Basisdemokratie, alternativer Wirtschaft und Äquidistanz zwischen den Blöcken, die die achtziger Jahre beflügelt hatten, waren dahin. Da hieß es umdenken, und das gelang mit verblüffender Leichtigkeit. So wie sich der größte Teil der Linken schnell mit der Wiedervereinigung arrangiert hatte, übernahm er auch alle möglichen „neoliberalen“ Konzepte. Wer eben noch vor der Allmacht ökonomischer Verwertungsinteressen gewarnt hatte, die Belastbarkeit des industriellen Systems erproben wollte und den einzelnen mühsam erzog, seine Interessen gegen die des größeren Ganzen durchzusetzen, den beherrschte plötzlich die Überzeugung, man müsse jeden gesellschaftlichen Bereich nach Marktprinzipien organisieren, sollte die Erfordernisse der Betriebe als vorrangig betrachten und von jedem mehr Anstrengungen und Opfer verlangen. Die Bürgerlichen waren von so viel Lernfähigkeit angetan. Schröder erschien als gern gesehener Gast in Un-ternehmerkreisen, Herbert Kremp zollte Joschka Fischer Anerkennung für seine Außenpolitik, und in der Zentrale des Springer-Konzerns diskutierte man launig die Kampagnen und Brandanschläge während der APO-Zeit. Diese Bewegung auf den Gegner zu hatte sich bei den Bürgerlichen abgezeichnet, nachdem ihre „geistig-moralische Wende“ gescheitert war und man unter dem Eindruck der „Lagerwahlkämpfe“ Möglichkeiten eines Kurswechsels sondierte. Es gab damals Gründe für die Annahme, daß Schwarz-Gelb dauernd Rot-Grün strategisch unterlegen bleiben würde, wenn der Union nur ein denkbarer Koalitionspartner blieb – die in ihrer politischen Existenz bedrohte FDP -, während sich die Sozialdemokraten sowohl mit den Liberalen als auch mit den Grünen verbinden konnten. Der Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, entdeckte also die „weichen Themen“ (Frauen, Umwelt, Soziales) und suchte die „harten“ (Verteidigung, Außen- und Deutschlandpolitik, Wirtschaft) in den Hintergrund zu schieben. Wenn er damit nicht vollständig durchdrang, hatte das wenig mit organisiertem Widerstand zu tun, mehr mit Trägheit. Die Basis wollte den großen Schritt ins Progressive, neuerdings allgemein Akzeptierte nicht mitgehen. Hier trat noch einmal die „alte Mitte“ auf, die die politische Mentalität der Nachkriegszeit entscheidend geprägt hatte, getragen von der „skeptischen Generation“ (Helmut Schelsky), die immer nur wußte, was sie nicht wollte. Das machte unempfindlich gegen ideologische Verführung, minderte aber auch die Gestaltungskraft. Kaum etwas hat auf das bürgerliche Lager so desorientierend gewirkt wie die allmähliche Aufzehrung aller Selbstverständlichkeiten aus den fünfziger und sechziger Jahren. ……………………………. Die Linke erfand sich neu als Erbin des Liberalismus, betreute Klassikerausgaben und machte in Kulturkritik und wandte sich schließlich sogar einem Gebiet zu, das ihr von Hause am fremdesten ist: den Manieren. ……………………………. Die Bürgerlichen hätten „Neue Mitte“ gern selbst reklamiert, kamen aber zu spät. Da waren die anderen schon da, flott und postmodern und gleichgültig, sofern der Betrieb nicht gestört wurde. Wenn überhaupt nennenswert opponiert wurde, dann von links. Anfang der neunziger Jahre schrieb Hans Magnus Enzensberger in einem Essay: „Der Mittelweg der Republik hat sich, wenigstens vorläufig, als durchaus golden erwiesen. Die Mehrheit der Bevölkerung will von Abenteuern nichts mehr wissen … Der Appell an Einsicht und Verständnis gehört zum Habitus. Ausgewogenheit soll zwischen dem Falschen und dem Richtigen vermitteln. Ja, da und dort greift sogar der absonderliche Gedanke um sich, alle Widersprüche ließen sich lösen, wenn nur die Beteiligten zum ‚Dialog‘ bereit wären.“ Hinter dem Spott kaum verborgen, blieb die alte Feindschaft gegen das juste milieu spürbar, das seine Feigheit als Klugheit tarnte. Aber geholfen hat es nichts. Enzensberger ist selbst zu einem wichtigen Repräsentanten der „Neuen Mitte“ geworden, im Feuilleton des Klassenfeindes angekommen. Was man den Bürgerlichen als Modernisierung andiente, hat die Linke als historischen Kompromiß zu verstehen gelernt. Auch dafür gab es eine längere Zeit der Vorbereitung: beginnend mit der Auflösung der K-Gruppen und der mehr oder weniger geglückten Integration ihrer Kader in die Partei der Grünen, fortgesetzt im Sieg der „Realos“ über die „Fundis“ und vollendet durch den entschlossenen Schritt ins Arrivierte. Die Linke erfand sich neu als Erbin des Liberalismus, betreute Klassikerausgaben und machte in Kulturkritik, nutzte den großen Einfluß auf den Kunst- und Literaturbetrieb nicht mehr nur für Agitation und Propaganda, sondern gab auch dem Zwecklos-Schönen Raum, und wandte sich schließlich sogar einem Gebiet zu, das ihr von Hause am fremdesten ist: den Manieren. Das alles hat dazu beigetragen, daß in den neunziger Jahren ein Konsens zu etablieren war, der – nach einer Formel Frank Schirrmachers – von Habermas bis Stoiber reichte. Was links davon stand, wurde geduldet, aber nicht zugelassen, was rechts davon stand, wurde nicht einmal geduldet. Die Politische Klasse, aber auch die Prominenz drumherum, bildet seither ein Ganzes von erstaunlicher Homogenität, sowohl, was den Stil des Auftretens, als auch, was die Inhalte betrifft. Es gibt keine Differenzen, sondern nur noch Nuancen, minimiert bis an die Grenze des Verschwindens. Ähnliche Prozesse wie in Deutschland waren in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten. Der Abschied der französischen Sozialisten von François Mitterrand und die Akzeptanz der multikulturellen Gesellschaft durch Jacques Chirac, der Aufstieg von New Labour in Großbritannien und die Unverfrorenheit, mit der Tony Blair das ihm nützlich Erscheinende von Margaret Thatcher übernahm, die Mäßigung der kommunistischen und der nationalistischen Parteien Spaniens und Italiens, das alles könnte man als Tendenz zur „Neuen Mitte“ beschreiben. Im Grunde gibt es in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch Liberale, genuine und solche „après la lettre“ (Jan-Werner Müller): Post-Faschisten, Post-Konservative, Post-Klerikale, Post-Sozialisten, Post-Kommunisten. Das muß man nicht erfreulich finden. Jean-Christophe Rufin, einer der interessanteren linken Politikwissen-schaftler, veröffentlichte 1994 ein Buch unter dem Titel „Die Diktatur des Liberalismus“, in dem er darauf hinwies, wie erfolgreich das westliche System jeden Widerstand gegen sich korrumpiere und absorbiere und daß das bedenkliche Folgen nach sich ziehe. Die „liberale Kultur“, so Rufin, verfüge „über die einzigartige Fähigkeit, sich von dem zu nähren, was sich ihr widersetzt, alle Kräfte, die sie vernichten wollen, in zuträgliche Energien umzuwandeln, was gelegentlich so weit geht, daß sie sich ihre eigenen Feinde schafft und sie heimlich unterstützt, um sie sich dann zunutze zu machen“. Das ist im Prinzip nicht neu, sondern wurde früher schon von Konservativen (etwa Juan Donoso Cortés) oder Sozialisten (etwa Georges Sorel) gesehen, aber die Diagnose hat eine gewisse Verschärfung dadurch erfahren, daß der Liberalismus auch seinen letzten und größten Feind fällen und verzehren konnte. Die Alleinstellung potenzierte die Gefahr und bot einer Ideologie, die ausdrücklich im Namen der Freiheit aufgetreten war, die Möglichkeit, den Zwang als politisches Mittel zu entdecken. Daß Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen sind, ist daran abzulesen, daß parallel zum Aufstieg der „Neuen Mitte“ ein Abstieg von Begriffen zu beobachten war, die mit Bürgerrechten, Selbstbestimmung und Pluralismus zu tun hatten. Die „Neue Mitte“ vergaß nach ihrer Machtübernahme schlagartig jede Staatsskepsis und bediente sich unverfroren der Mittel direkter und indirekter Zensur. Indes wäre es falsch, ihren Siegeszug nur als Überbauphänomen zu deuten. In einer seiner besten Analysen der „massendemokratischen Postmoderne“ hat Panajotis Kondylis vor entsprechenden Kurzschlüssen gewarnt und auch eine Interpretation der „Neuen Mitte“ geliefert. Deren Aufkommen hielt er für zwangsläufig, weil sie einer notwendigen Adaptation an veränderte materielle Umstände entsprach: „Indem die Kulturrevolution in der selbstgefälligen Gestalt des Bürgerschrecks auftrat, erweckte sie bei vielen den Eindruck, sie könnte den Sturz des ‚Systems‘ herbeiführen. In Wirklichkeit war sie keine Revolution, sondern eine Anpassungsbewegung auf dem Weg zur reifen Massendemokratie. Ihr zentrales Begehren, die Selbstverwirklichung hier und jetzt zu erreichen oder zu erleben, entsprach strukturell einem wesentlichen Merkmal der massenhaft konsumierenden und hedonistisch ausgerichteten Massendemokratie. … So hat z. B. die sogenannte sexuelle Revolution, von der Legitimierung der Perversion bis zur Abtreibungsfreiheit, der weiteren Zersetzung der Familie und somit der weiteren Atomisierung der Gesellschaft und der Intensivierung der sozialen Mobilität gedient.“ Der große linke Aufbruch der sechziger Jahre hatte in dieser Perspektive nur den Zweck, letzte Widerstände gegen die Durchsetzung der modernen Konsumgesellschaft abzuräumen. Die Schwäche der gegenwirken-den Kräfte lag dann begründet in deren historischer Überholtheit und der Desertion jener Gruppen, die ahnten, welchen Profit man aus der unerwarteten Gelegenheit schlagen konnte. Wenn aber der Erfolg der „Neuen Mitte“ im Interesse des objektiven Fortschritts lag, dann bleibt irritierend, wie rücksichtslos sie die ökonomischen und sozialen Bedingungen zerstört hat, die ihren Aufstieg ermöglichten. Wachsende Verschuldung, wachsende Arbeitslosenzahl, wachsende Kriminalität, wachsende Einwanderung bei schwindender Investitionsbereitschaft, schwindender Disziplin, schwindender Rechtssicherheit und schwindender Bevölkerung sind Kennzeichen einer Lage, die nicht über Nacht entstand, sondern ihre Ursache in Fehlentwicklungen hat, die bis in die frühen siebziger Jahre zurückreichen, als man begann, die tradierte gesellschaftliche Struktur zu zerschlagen und verantwortungslose Ausgabenpolitik im Namen der „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) zu betreiben. Die „Neue Mitte“ versteht sich als deren Erbin und durfte lange glauben, den Konsequenzen ausweichen zu können. Aber das ist jetzt vorbei. Mit der Demontage des Sozialstaats verliert sie den Zugriff auf ihre erfolgreichste Methode gesellschaftlicher Pazifizie-rung, und das muß politische Rückwirkungen haben. Die Wiederkehr der Flügelkräfte in Deutschland ist ein deutliches Symptom. So sehr man bezweifeln darf, daß von NPD/DVU und PDS/WASG konstruktive Vorschläge kommen werden, sie erscheinen doch als naheliegende Reaktion auf einen Prozeß, den die „Neue Mitte“ nicht mehr steuern kann. ……………………………. Parallel zum Aufstieg der „Neuen Mitte“ war ein Abstieg von Begriffen zu beobachten, die mit Bürgerrechten, Selbstbestimmung und Pluralismus zu tun hatten. Nach ihrer Machtübernahme vergaß sie jede Staatsskepsis. ……………………………. Die Polarisierung folgt außerdem einer Entwicklung, die in den Nachbarländern schon weiter vorgeschritten ist. Hier wird das Zentrum seit zehn Jahren regelmäßig von den Flanken her erschüttert und haben sich Offenheit und Heftigkeit der Diskussion deutlich verschärft. Gekennzeichnet scheint die Situation vor allem durch das Mißtrauen des demos gegenüber der Politischen Klasse insgesamt und die radikale Kritik des wichtigsten gesellschaftlichen Umbauprojekts der letzten Jahre: Auflösung des Nationalstaats durch Integration in die EU einerseits und die Duldung oder Förderung des Multikulturalismus andererseits. Der niederländische Journalist Michael Zeeman äußerte im Hinblick auf das Abstimmungsergebnis zur Europäischen Verfassung in seiner Heimat, es beweise das Vorhandensein einer besorgniserregenden „Kluft zwischen dem politischen Establishment und der Wählerschaft“, aber das sei an sich nicht neu, sondern nur die Fortsetzung jener Entwicklung, die 2002 mit dem „Fortuyn-Aufstand“ gegen die ungeregelte Migration begonnen habe. Man erkennt hier ein Zusammenspiel innen- und außenpolitischer Faktoren, das die „Neue Mitte“ neben der wirtschaftlichen Misere am stärksten unter Druck setzt. Außenpolitik hatte für sie immer etwas Verstörendes, so als ob sie jenseits diplomatischer Alltagsbeziehungen gar nicht vorgesehen wäre. Eigentlich glaubte man an Weltinnenpolitik und dauernde Entspannung. Als sich das als Täuschung erwies, verlegte man sich aufs Experimentieren. Die Regierung Schröder konnte im einen Fall das amerikanische Argumen-tationsmodell für militärisch-moralische Interventionen übernehmen, im anderen ablehnen. Die Begründungen bildeten eine Melange aus Pazifismus und Realpolitik, nur die Anteile waren je verschieden. Schröder verlangt größeres Gewicht im Weltmaßstab, ist aber nicht in der Lage, zwischen Westbindung und kontinentaler Blockbildung zu entscheiden. Deutschland soll zwar „Motor“ der europäischen Einigung sein, aber über das Wesen des projektierten Europas vermag man keine Aussage zu treffen. Abgesehen von gewissen Affekten, die seit langem ideologisch fundiert sind, läßt sich weder bei ihm noch bei seinem Außenminister eine Strategie erkennen, und hier zeigt sich noch einmal und besonders deutlich, was Stärke und Schwäche der „Neuen Mitte“ zugleich ist: Konzeptionslosigkeit. Konzeptionslosigkeit bedeutet Stärke insofern, als sie die Beweglichkeit in der Politik erhöht, alles zur Manövriermasse werden und jene Skrupel schwinden läßt, die sonst an der Instrumen-talisierung von Menschen und Ideen hindern. In ruhigen Zeiten kann man damit weit kommen, und viele Erfolge der „Neuen Mitte“ erklären sich wesentlich aus dem Nutzen solcher Chancen. Umgekehrt führen krisenhafte Entwicklungen regelmäßig dahin, daß die Frage nach der Legitimität politischen Handelns lauter gestellt wird, daß sich der einzelne – nachdem der Verweis auf das Funktionieren nicht mehr überzeugt – wieder klar darüber wird, daß es niemals nur um das „Wie“, sondern immer auch um das „Warum“ geht. In solchen Situationen genügen Konfliktvermeidung, geschicktes Marketing und Belohnung kaum, die ihre Wirkung sonst selten verfehlen. Das ist der Politischen Klasse durchaus bewußt, unklar bleibt aber, was man tun kann. Einige möchten den einmal beschrittenen Weg fortsetzen und die „Neue Mitte“ zu einer „libertären“ Bewegung machen, die im Namen der „Autonomie“ (Daniel Cohn-Bendit) jene Tendenzen radikalisiert, die bisher schon zur Auflösung der Bestände genutzt wurden, eine zweite Gruppe, vor allem in der Führungsspitze der SPD, will den Akzent deutlicher nach links verschieben, um die Loyalität der Massen noch einmal mit den alten Methoden zu sichern, eine dritte möchte den Akzent kaum spürbar nach rechts korrigieren, qua „Rüttgerisierung“ zur Macht kommen und endlich allein bestimmen dürfen, was „Mitte“ ist. Aber wird, wenn das gelingt, auch die gewohnte Prämie auf den Sieg gezahlt? Bisher konnte man diese Frage bejahen. Schon bei der eingangs erwähnten Veranstaltung des Bergedorfer Gesprächskreises wurde Helmut Kohl mit der Weisheit zitiert, die Union könne die Wahlen nur in der Mitte, aber nicht auf der Rechten gewinnen. Armin Mohler, der an der Diskussion teilnahm, kritisierte diese Auffassung allerdings unter Hinweis darauf, daß der Begriff „Mitte“ so eine Bedeutung erhalte, die ihm nicht zukomme. Das Pathos der Mitte habe einen Sinn in traditionellen, religiös bestimmten oder monarchischen Gesellschaften, aber nicht unter den Bedingungen der Moderne, zu deren Realität die – geordnete – Konkurrenz verschiedener Gruppen um Einfluß und Macht gehöre. Heute der Mitte eine Präferenz zuzubilligen, bedeute den Kompromiß zur Norm zu erheben, auch wenn der Kompromiß in der Sache falsch oder gefährlich sei, und: Politik der Mitte bestehe dann „darin, daß die eine Partei an einem Tag zu einem bestimmten Problem ja sagt, am nächsten Tag nein, und dann wieder ja. Welches Ergebnis dabei herauskommt, hängt jeweils davon ab, an welchem Tag die Abstimmung stattfindet.“ Man könnte eine weitere Überlegung hinzufügen: Neben der Einteilung in Linke-Mitte-Rechte hat es seit der Französischen Revolution noch ein anderes, allerdings rasch wieder vergessenes Schema der politischen Zuordnung gegeben, das „Berg“, „Ebene“ und „Sumpf“ unterschied. Die Berg- war die Bewe-gungspartei, die Ebene die Partei der Beharrung und der Sumpf die Masse dazwischen, ohne eigenen Willen, immer bereit, sich dem stärkeren Lager anzuschließen. So betrachtet, erscheint die Mitte als das, was sie ist: unselbständig und nur geeignet, die eine oder die andere Tendenz zu verstärken. Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen. Seinen Text haben wir mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Sezession“, Heft 10, Juli 2005 (Rittergut Schnellroda, 06268 Albersroda) entnommen.