Im Hinblick auf das Problem der re-education geht es kurz gesagt nicht nur um die Ausrottung des Nazismus, sondern auch um die Eliminierung von Autoritarismus, Militarismus, Junkertum und Rassismus. Das böse Werk Hitlers, daran sei erinnert, dauerte nur zwölf Jahre, das seiner Vorgänger aber reichte über Generationen hinweg. Die Besatzungsmächte sind aufgerufen, in einer vergleichsweise kurzen Zeit diese althergebrachte Akkumulation gefährlicher Vorstellungen auszulöschen.“ Mit diesen Worten charakterisierte Saul Padover, 1905 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren, die 1920 in die USA emigrierten, das Programm und die Ziele der „re-education“ („Umerziehung“) der Deutschen. Padover arbeitete ab 1943 in der Abteilung für psychologische Kriegführung in London. 1944 kam er als Mitglied eines US-Geheimdienstes mit den US-Truppen nach Deutschland. Hier verhörte er deutsche Funktionäre über ihre Kenntnisse der NS-Gewaltverbrechen und über ihr Verhältnis zum NS-Regime. Die Ergebnisse seiner Vernehmungen liegen seit 1999 unter dem Titel „Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland“ auch in deutscher Sprache vor. Die Berliner Tageszeitung taz kommentierte in einer Rezension: „Sein Urteil über das deutsche Volk fiel niederschmetternd aus: autoritätsgläubig, stumpf, gefühllos, gewissenlos, selbstherrlich und arrogant auch in der Kapitulation, weinerlich in kollektivem Selbstmitleid. (…) Es war das Verhalten von Sklaven, die Bürokraten anbeten.“ Daß dieses angebliche stumpfe Sklavenvolk der Deutschen einer grundlegenden Bewußtseinsveränderung bedurfte, um die Welt für die Demokratie sicherer zu machen, darin waren sich die Wortführer der „re-education“ einig. Totale „Auslöschung“ der gesamten Traditionen Padover steht pars pro toto für die Exponenten der „re-education“, die nach Kriegsende antraten, den deutschen „Nationalcharakter“ zu verändern. Es ging darum, so drückte es der Staatsrechtler Carl Schmitt in einer Notiz vom 6. November 1949 aus, dem besiegten Feind, also den Deutschen, „eine andere Seele einzuimpfen“. An die Stelle der angeblichen Aggressivität der Deutschen, die zu zwei Weltkriegen geführt haben soll, sollten sie zu politischem Wohlverhalten („fair play“) und wirtschaftlicher Zusammenarbeit erzogen werden. Das konnte aus Sicht der Alliierten offensichtlich nur durch die totale „Auslöschung“ der „gesamten Traditionen“ geschehen, „auf denen die deutsche Nation errichtet wurde“. So steht es jedenfalls im Abschlußbericht des interministeriellen Komitees für Umerziehung von Dezember 1943 zu lesen, aus dem Caspar von Schrenck-Notzing in seinem Beitrag zur Festschrift zum 70. Geburtstag (1993) für den mittlerweile verstorbenen Heidelberger Politologen Hans-Joachim Arndt zitiert. Schmitts Einlassung trifft insofern den Kern der Sache, als die konzeptionellen Wurzeln für das Programm der „re-education“ in der amerikanischen Bewegung für geistige Gesundheit der 1930er Jahre lagen. In deren Kontext, so merkt beispielsweise die Heidelberger Soziologin Uta Gerhardt in ihrer Abhandlung „American Sociology and German Re-education“ (1997) an, bedeutete „re-education“ zunächst therapeutische Maßnahmen, mit denen die Charakterstruktur von Patienten verändert werden sollten, die an Paranoia oder anderen geistigen Erkrankungen litten. Dieser Ansatz wurde dann auf die Deutschen als Kollektiv übertragen. Der Neurologe Richard A. Brickner von der Columbia University diagnostizierte 1942 bei den Deutschen eine „paranoide Psychose“, die er anhand von vier Kriterien festmachen zu können glaubte, nämlich einmal an der angeblichen deutschen „Megalomanie“, die in der Sentenz „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ ihren signifikanten Ausdruck finde. Weiter nannte Brickner den absoluten Anspruch der Deutschen auf Führerschaft über andere Nationen und Kulturen. Schließlich sollen die Deutschen durch „Verfolgungswahn“ gekennzeichnet gewesen sein, der sich dadurch ausdrückte, daß sie sich gegenüber allen anderen „diskriminiert“ fühlten; die Deutschen meinten, so Brickner, daß ihnen ihr rechtmäßiger Anteil vorenthalten würde. Des weiteren neigten die Deutschen zu einer nachträglichen Verzerrung der Fakten. Brickner machte diese „Ferndiagnose“ auch an der Überzeugung vieler Deutscher nach dem Ersten Weltkrieg fest, daß dieser Krieg nicht verloren wurde, sondern durch einen „Dolchstoß“ verursacht worden war, den die Sozialdemokraten durch eine „Revolution“ auslösten. Die therapeutischen Maßnahmen wurden nun in Verbindung mit den Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, auf die deutsche Situation angewendet. Nach Gerhardt spielte die Soziologie zwei Rollen. Zum einen stellten die Soziologen einen diskursiven Rahmen bereit, um die Unterschiede zwischen demokratischen und totalitären Gesellschaftssystemen zu verstehen. Von maßgeblicher Bedeutung waren hier unter anderem die Arbeiten des Harvard-Soziologen Talcott Parsons, der in Anlehnung an Max Webers Thesen über das „charismatische Führertum“ die von ihm so wahrgenommene Revolte gegen die moderne Welt in Deutschland nach 1933 zu erklären versuchte. Prosperierende Wirtschaft für kontrollierten Wandel Zum anderen veränderte die Soziologie nach Gerhardts Ausführungen das Konzept der psychiatrischen „re-education“ dahingehend, daß die ökonomische Erholung Deutschlands der angestrebten Umformung des deutschen Nationalcharakters dienlich gemacht werden sollte. Insbesondere Talcott Parsons war der Meinung, daß die ökonomische Wiederherstellung Deutschlands die beste Strategie für eine „re-education“-Strategie sei, die auf eine Eingliederung und Einbindung Deutschlands in den Kreis „friedliebender Nationen“ hinauslief. Parsons‘ Vorstellungen können auch gelesen und verstanden werden als Reaktion auf die Idee einer vollständigen industriellen Schleifung Deutschlands, für die der „Morgenthau-Plan“ steht. In seiner Schrift „The Problem of a Controlled Institutional Change“ (1945), die in der von Gerhardt herausgegebenen und kommentierten Dokumentation „Talcott Parsons on National Socialism“ (New York 1993) zu finden ist, kommt er in Abwägung der verschiedenen Wirkungsbereiche für einen kulturellen Wandel, wie Familie, Schule, Regierung und Wirtschaft, zu dem Ergebnis, daß nur die Wirtschaft eine realistische Chance für einen kontrollierten institutionalisierten Wandel biete. Zum einen deshalb, weil sich die Wirtschaft in Deutschland im Bereich der Zuständigkeit der Alliierten befinde, die hier ihre Macht leicht im Interesse institutioneller Neuerungen anwenden könnten. Und zum anderen, weil die Wirtschaft die besten Möglichkeiten biete, die Bemühungen um eine „re-education“ der Deutschen zu verdecken, sprich: nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. Den Wortführern der „re-education“ lag viel daran, daß die Deutschen aus freiem Willen in das neue Wertesystem einwilligten. So schrieb Kurt Lewin (1890-1947), ein ehemaliger Berliner Gestaltpsychologe, der nach seiner Emigration zu einem der wichtigsten Exponenten der sozialpsychologischen Schule in den USA wurde, in seiner 1945 veröffentlichten Schrift „Das Verhalten, die Kenntnis und die Übernahme neuer Werte“: „Fügt sich der einzelne rein aus Furcht vor Bestrafung und nicht durch die Weisungen seines freien Willens und Bewußtseins, dann nimmt das neue Werte-System, zu dessen Anerkennung man ihn bringen möchte, bei ihm nicht die Stellung eines Über-Ichs ein, und seine Umerziehung bleibt daher unvollendet. (…) Nur falls und wenn das neue Werte-System freiwillig übernommen wird, nur falls es dem eigenen Über-Ich entspricht, ergeben sich jene Veränderungen der sozialen Erkenntnis, die (…) eine Voraussetzung für eine Veränderung des Verhaltens und daher für eine dauerhafte Wirkung der Umerziehung sind.“ Statt Nation „die Menschen“ oder „die Gesellschaft“ Daß die amerikanischen Sozialwissenschaften im Hinblick auf die „re-education“ eine derart exponierte Rolle spielten, kommt nicht von ungefähr. Caspar von Schrenck-Notzing bemerkte in seiner 1965 erstmals publizierten „Charakterwäsche“, daß „die amerikanische Militärregierung von Anfang an mit sozialwissenschaftlichen Einrichtungen gespickt“ war (Caspar von Schrenck-Notzing: Charakterwäsche – Die Re-education der Deutschen und ihre bleibenden Auswirkungen. Erweiterte Neuausgabe. Ares Verlag, Graz 2004, 350 Seiten, gebunden, 19,90 Euro). Die „social sciences“ standen, um es mit dem Bayreuther Soziologen Bernhard Plé zu sagen, im Dienste einer „säkularen Mission“. „Es war kein Wunder“, stellte Plé in seiner Untersuchung „Wissenschaft und säkulare Mission“ (Stuttgart 1990) fest, „daß die Bemühungen um eine Gesellschaftswissenschaft nach Amerika verlegt wurden und Amerika hierzu namhafte Beiträge leistete. Das neue Land schien im Gegenteil die beste Formulierung dieser Gesetze zu bieten. (…) Die große Unabhängigkeitserklärung war auf Prinzipien gegründet, die sich vom Naturgesetz (…) herleiteten; die Verfassung war so entworfen, daß sie ewige Wahrheiten über das Wesen der Menschen und der Staatsgewalt und ihrer gegenseitigen Beziehungen verkörperte.“ Mit den Sozialwissenschaften erwachte in den USA die Idee der technischen Steuerbarkeit der „Gesellschaft“, mit der die Erwartung verknüpft wurde, daß sie dem Menschen künftig den Fortschritt zu einer Daseinsweise eröffnen würde, die im Einklang mit den sozialen Gesetzen steht. Einer der einflußreichsten Vertreter dieses Fortschrittsglaubens war zweifelsohne der amerikanische Philosoph John Dewey, der mit seinem „Pragmatismus“ nach den Worten von Plé „die verschiedenen Strömungen des Fortschrittsglaubens mit dem Wissenschaftsglauben verbinden und damit Amerikas Auserwähltheitsglauben neu hat formulieren können“. Für Dewey und viele andere stand außer Frage, daß der Fortschritt der Menschheit auf das „Stadium der Demokratie“ hinauslaufe. Deweys Botschaft, die Sozialwissenschaft könnte die „gesetzmäßigen Beziehungen der Gesellschaft“ ermitteln und damit dem Menschen ermöglichen, „sowohl die Folgen seines Handelns vorauszusagen wie auch seine Ziele sozialtechnologisch zu verwirklichen“, bildete nach den Worten von Plé „die logische Konsequenz aus dem Glauben, daß künftig die Sozialwissenschaft die Einstellung zu Mensch und Gesellschaft ebenso tiefgreifend wandeln müsse, wie seit der Kopernikanischen Revolution die Naturwissenschaft die Einstellung des Menschen zur Natur gewandelt hätte“. Daß wir heute in Deutschland fast ausschließlich nur noch von „Menschen“ und „Gesellschaft“ reden, zeigt, in welchem Maße sich jener universalistisch-missionarische Ansatz durchgesetzt hat, der mit dem amerikanischen Verständnis der Sozialwissenschaften und damit dem „re-education“-Programm verbunden war. Was heute unter „politischer Korrektheit“ subsumiert wird, ist ein Ausfluß dieses sozialwissenschaftlichen Ansatzes, dessen Konsequenzen der 1994 verstorbene Soziologe Friedrich Tenbruck in seiner Schrift „Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen“ 1984 wie folgt zusammenfaßte: „Indem die Soziologie ‚die Gesellschaft‘ erfand, erklärte sie sich zu einer Wissenschaft, die mit jedem Schritt ihrer Erkenntnis die wahre, bislang nur unbekannte Ordnung (…) entbergen werde. Jede Soziologie, die ‚die Gesellschaft‘ erfassen will, beansprucht mit der Autorität, über die wahre Ordnung des Daseins (…) zu belehren, auch die moralische Autorität, über die richtige Lebensführung zu unterrichten.“ Dieser universalistisch-missionarische Ansatz, der „re-education“ und „self-re-education“ wesentlich bestimmt hat, hat auch dazu geführt, daß die Deutschen über den Sinn und die Aufgabe von Traditionen nichts mehr zu sagen wissen. Diese Bewußtseinslage kann auch als Entortung bezeichnet werden. Sie markiert die Endstufe der von den Alliierten angestrebten totalen „Auslöschung“ aller Traditionen, „auf denen die deutsche Nation errichtet wurde“. In welchem Ausmaß dies geschehen ist, hätte wohl selbst die Protagonisten der „re-education“ der 1940er Jahre überrascht. Stichwort: Umerziehung Nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland hatten die Besatzungsmächte unterschiedliche Konzepte der Behandlung der Deutschen. Schließlich setzten sich die Amerikaner mit ihrem bereits 1943 im State Department begonnenen Plan einer „Re-education“ in den westlichen Besatzungszonen durch. Am 5. Juni 1946 wurde das „Long-Range Policy Statement for German Re-education“ (SWNCC 269/5) in den Westzonen verabschiedet. Mit der Kontrolle über die Medien (Lizenzträger-System), Kultureinrichtungen und das Bildungssystem sollte die auf etwa dreißig Jahre angelegte Umerziehung realisiert werden. Der Alliierte Kontrollrat beschloß in seiner „Direktive 54“ vom 25. April 1947, daß die Schulen „die Entwicklung eines bürgerlichen Verantwortungsgefühls“ und „die Auffassung einer demokratischen Lebensweise“ fördern sollen. Allmählich sollte das Programm unter deutscher Kontrolle fortgeführt werden.