Für Nicht-Gläubige ist das ein wenig schwierig zu verstehen. Warum reist eine Million junger Leute aus der ganzen Welt nach Köln, um auf einer feuchten Wiese einen Gottesdienst mit dem Papst zu feiern, den sie als Heiligen Vater bezeichnet? Manche ziehen Vergleiche. Der erste ist der Concierge im Hotel am Augustinerplatz. „Et iss wie zum Karneval. Nur datt die sisch nich so besaufe“, sagt er im reinsten Kölner Dialekt. Er sollte nicht der einzige bleiben, der sich darüber wundert, wie sich die Einwohnerzahl einer Stadt kurzfristig beinahe verdoppelt, ohne daß das Chaos ausbricht. Andere – wie der Großteil deutscher Medien – wissen nichts über den Glauben zu berichten, weil das in ihren Augen alles Kokolores von vorgestern ist. Also verlieren sie sich in nüchterner Zahlenanalyse der Superlative: Zwanzigmal fand der Weltjugendtag (WJT) bereits statt. Aus 197 Ländern kommen die Teilnehmer diesmal. 218 Ortsverbände des Technischen Hilfswerks stellen insgesamt 2.000 Einsatzkräfte. 8.000 Journalisten sind akkreditiert. Weitere 12.000 Helfer sind freiwillig vor Ort. 500.000 hellblaue Rucksäcke wurden von DHL an die jungen Pilger verteilt. 1.000.000 Katholiken nehmen teil, als Benedikt XVI. am Sonntag auf dem Marienfeld die Heilige Messe feiert. Und so weiter. Die übergroße Masse ist zwischen 16 und 20 Jahren Aber diese Zahlen sind nur nüchternes Beiwerk, das nicht beschreiben kann, was in den Herzen der jungen Christen vor sich geht. Sie kommen aus Irland und den Vereinigten Staaten, aus Portugal und Spanien, aus Lateinamerika und Afrika. Die meisten kommen, den Fahnen nach zu urteilen, aus Italien, Polen und Frankreich. Die Polen tragen als Erkennungsmarke ein blaues Hemd mit der Aufschrift „Polska“. Am meisten stechen aber die Italiener aus der Pilger-Masse hervor. Sie tragen blaue Sonnenhüte. Aber nicht alle Italiener. Blaue Hüte haben nur die, die mit ihrer Kirchengemeinde angereist sind. Silvia zum Beispiel gehört zu den Pfadfinderinnen. Ich treffe sie auf dem Weg zum Marienfeld am Sonnabend. Die Schülerin aus Bologna ist ganz aufgeregt, endlich den Papst zu sehen zu bekommen. „Es ist wunderbar, daß so viele Katholiken zusammenkommen. Ich bin in einer Gruppe von 25 Pfadfindern hier“, sagt sie. Mit ihren 17 Jahren ist die junge Frau so etwas wie die Durchschnitts-Pilgerin. Zwar ist das Alter der WJT-Teilnehmer mit 16 bis 30 sehr großzügig vorgegeben. Aber die übergroße Masse ist eher zwischen 16 und 20. Und ein paar noch Jüngere scheinen sich daruntergeschmuggelt zu haben. Für sie ist der Gottesdienst wohl erst recht eine Abenteuerreise. Besonderes Interesse hatten viele Medien auch am Besuch Benedikts XVI. in einer Kölner Synagoge. Alle Pool-Karten waren weg. Pool-Karte – das ist das Zauberwort, die Eintrittskarte zu den Fototerminen in unmittelbarer Nähe des Pontifex Maximus. Danach geben Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, und Paul Spiegel, der Vorsitzende des Zentralrats, eine internationale Pressekonferenz im WJT-Pressezentrum. Der frühere Ratzinger-Kritiker Paul Spiegel wird gebeten, den Schritt zu kommentieren, den Benedikt XVI. auf die Juden zugegangen ist. „Den Worten müssen jetzt Taten folgen“, sagt Spiegel. Ihm geht die Gesprächsbereitschaft noch immer nicht weit genug. Ein deutscher Journalist sieht seine Chance, einen neuen Skandal anzurühren, und fragt: „Sind die Äußerungen des Papstes nicht noch schlimmer als die des CDU-Abgeordneten Hohmann?“ Doch nicht nur Lehmann, auch Spiegel wiegelt den albernen Fragesteller ab. Diesmal wenigstens. Anschließend geht es zum Pantaleon, einem Priesterseminar. Im strömenden Regen werden wir Journalisten in den Innenhof des Gebäudes geführt. Vis-à-vis soll Papst Benedikt XVI. später eine Andacht halten. Thomas (20) in der ersten Reihe ist aus Bayern angereist, um den Heiligen Vater zu sehen. „Ich warte seit sieben Stunden hier“, sagt er. So wie viele andere. Dann kommt plötzlich Anweisung von den WJT-Oberen: Ein Teil der Journalisten muß seine Position wieder räumen. Zusammen mit einer Gruppe von Leuten werde ich in den Eingangsbereich des Seminars gelotst. Hier beginnt das große Warten. Eine Stunde lang. Die ganze Straße ist abgesperrt. Jubelnde Menschen, wohin das Auge sieht. Direkt vor dem Eingang auf der anderen Straßenseite haben sich Spanier und Kroaten festgesetzt. Immer wieder beginnen sie mit ihren Sprechchören „Be-ne-det-to“ oder „Pa-pa-mu-cho“. Mit mir warten Adriana aus Mexiko und Marija aus der Ukraine. Adriana arbeitet für zwei Wochenzeitungen aus ihrer Heimat und hat versucht, sich mit weiblichem Charme bei den Polizisten durchzusetzen, um eine bessere Position zu ergattern – vergebens. Marija kommt aus Lemberg. Sie ist katholisch – wie all die anderen Fotografen auch. Stolz erzählt sie von ihrer Reise, die sie bis nach Paris geführt hat, von dort nach Süddeutschland und nun nach Köln. Wie sie nach Hause kommt, weiß sie noch nicht. Unser Gespräch wird jäh unterbrochen, als ein gewaltiger Jubel einsetzt. Jemand hat das Papamobil gesichtet. Benedikt XVI. ist im Anmarsch. Eine Minute später hält er vor dem Tor. Die Menge steht Kopf. Der Heilige Vater begibt sich auf die Pilger zu, winkt ihnen zu, um ihn herum immer ein cordon sanitaire aus Personenschützern. Dann wendet er sich um und kommt auf das Tor zu. Er läuft direkt an den Fotojournalisten vorbei. Trotzdem hat Adriana aus Mexiko kein Glück. Der entscheidende Schnappschuß mißlingt: Als er ihr direkt zuwinkt, da ist sie so ergriffen von ihrem Glück, daß sie ihren Job vergißt und zurückwinkt. Sie vergißt, den Auslöser zu drücken. Dann beginnt eine weitere Stunde des Wartens. Bis der Papst das Gebäude wieder verläßt, warten die Gläubigen geduldig – nur um ihm abermals für einen Augenblick zujubeln zu dürfen. Man lernt sich weiter kennen in der Wartezeit: Katharina kommt aus Polen. Auch sie arbeitet für zwei katholische Zeitungen, eine in Polen und eine in Portugal. Sie ist sauer, daß sie nicht mehr im Innenhof stehen darf, wo jetzt die Messe gefeiert wird. „Seit der Papst nicht mehr Pole ist, werden wir hier stiefmütterlich behandelt“, schimpft sie. Wir kommen ins Gespräch: „Was denkst du darüber, daß ein Deutscher Papst geworden ist?“ Natürlich bin ich sehr froh darüber. „Du bist der erste Deutsche, der so denkt. Die meisten, die ich getroffen habe, waren eher für einen Lateinamerikaner, der auch die Dritte Welt vertritt. Du bist normal“, sagt sie. Es müssen Deutsche wie Astrid Krauthausen gewesen sein. Sie treffe ich am darauffolgenden Tag. Aus dem Pantaleon ist Benedikt XVI. in seinem Papamobil abgereist, so daß keine Fotos mehr gemacht werden konnten. „Früher war ich Meßdienerin, jetzt bin ich für die Ökumene“ Jetzt schlendere ich durch die Kölner Innenstadt. Auf einem kleinen Platz steht Astrid, eine WDR-Aushilfskraft. Sie betreut die Besucher eines Kastens, in dem ein Mikrofon aufgebaut ist. „Sprich mit ihm“ steht auf dem WDR-Kasten. Astrid ist in ihrem Glauben nicht so gefestigt wie die meisten richtigen WJT-Gäste. „Früher war ich Meßdienerin, dann habe ich ein bißchen bei den Evangelikalen mitgemacht. Jetzt bin ich für die Ökumene“, sagt sie. Sie animiert Menschen dazu, ihre persönliche Botschaft an Papst Benedikt in das Mikro zu sprechen. „Das wird dann auf DVD gebrannt und von Kardinal Meisner – glaube ich – dem Papst übergeben. Außerdem wird zu Weihnachten ein einstündiges Radio-Feature darüber ausgestrahlt“, erläutert Astrid. 120 Teilnehmer hatte das „Offene Mikrofon zum Jugendtag“ pro Tag, berichtet Astrid. Und wer kommt da so? „Wir hatten viele Lateinamerikaner, die haben teilweise sehr lange gesprochen. Und viele Schwule und Lesben, die wieder in die Kirche aufgenommen werden wollen“, erzählt Astrid strahlend. Beim Bummel durch die Innenstadt fällt auf, daß es sehr viel weniger Benedikt-Devotionalien-Händler gibt, als es die Medien vorher weismachen sollten. Es ist gar nicht so leicht, ein Benedikt-Hemd zu erwerben. In einem Souvenirladen direkt am Dom erklärt die Verkäuferin: „Die Nachfrage war auch nicht besonders groß. Wir haben aber viele Köln-Souvenirs verkauft.“ In einem anderen Geschäft die Testfrage nach Kondomen: „Wie viele haben Sie davon verkauft?“ – „Nicht viele“, lautet die Antwort. Für viele Medienvertreter war die „Kondomfrage“ so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt des Weltjugendtages. Die Bild-Zeitung stellte Pärchen vor, die sich trotz ihres Glaubens den Anweisungen den Heiligen Stuhls widersetzen und offen über ihr Liebesleben sprechen. Die Bravo erschien zwar mit „Bravo-Bene“-Riesenplakat. Andererseits verbreitete das Jugendmagazin auch Benedikt-Kritik auf eher niedrigem Niveau. So zum Beispiel Sängerin Christina Stürmer: „Dieser Papst ist extrem konservativ und altmodisch. Ich verstehe nicht, wie er Kondome in Afrika verbieten kann. Durch Geburtenregelungen würde es nicht so viele hungernde Kinder in Afrika geben. Daher lautet mein Wunsch an den neuen Papst Benedikt: Kondome in Afrika!“ Am Nachmittag geht es auf das Marienfeld. Die Anreise erfolgt im Bus. Die letzten fünf Kilometer müssen zu Fuß zurückgelegt werden. Auf dem Weg zum „Ufo“, so nennen alle den künstlichen Hügel, auf dem der Papst die Heilige Messe feiern wird, stimmen sich die Pilger ein. Sie singen Kirchenlieder wie „Laudato Si“ oder skandieren wieder „Be-ne-det-to“. Das Marienfeld ist in Planquadrate eingeteilt. Nah am Hügel ist buchstäblich jeder Quadratzentimeter belegt. Die Pilger ruhen sich auf Isomatten aus, essen, spielen Karten. Ein paar Italienerinnen tanzen. Es ist wie ein riesiges Ferienlager – Menschen, wohin man schaut. Endlich kommt auch die Sonne heraus. Als am frühen Abend das Papamobil an uns vorbeifährt, gibt es kein Halten. Wieder wird minutenlang „Be-ne-det-to“ skandiert. Fahnen werden geschwenkt. In der Abenddämmerung hält Benedikt die Vigil, das Nachtgebet. Er wechselt immer wieder vom Deutschen ins Französische, Englische, Italienische und Spanische. Die Stimmung läßt sich nicht in Worte fassen. Das Motto lautet „Wir sind gekommen, Ihn anzubeten“, und man könnte den Eindruck gewinnen, mit Ihm sei nicht Gott, sondern Benedikt gemeint. Es ist seine Show. Der Blick über das Marienfeld ist atemberaubend Am Sonntagmorgen werden um fünf die letzten Pool-Karten für die Heilige Messe ausgegeben. Wieder Glück gehabt! Mit dem Zug geht es auf das Marienfeld, wo 400.000 Pilger übernachtet haben. Es ist kalt und naß. Wieder bricht alles in Jubel aus, als sich das Papamobil seinen Weg zwischen den Gläubigen bahnt. Auf dem ganzen Feld verfolgen jetzt etwa eine Million Menschen den Gottesdienst. Eine Reihe von Großleinwänden trägt das Ereignis hautnah in den letzten Winkel des Feldes. Zwischen zwei etwa zwanzig Meter hohen Antennenrohren sind zwei Seile gespannt. Daran hängt eine Kamera, die über das gesamte Feld flitzt und einmalige Bilder produziert. Auch die Tonübertragung funktioniert einwandfrei. Der Ton kommt überall gleichzeitig an. Hier waren – anders als beim Transport der Pilger durch die öffentlichen Verkehrsmittel – wirkliche Profis am Werk. Benedikt beklagt „eine seltsame Gottesvergessenheit“. Ferner forderte er dazu auf, auch andere an die Kirche heranzuführen: „Laßt Euch nicht abbringen von der sonntäglichen Eucharistie, und helft auch den anderen, daß sie sie entdecken.“ Das erinnert stark an die unvergessenen Worte Johannes Pauls II., die er in Denver auf dem Weltjugendtag 1993 zu den Pilgern sagte: „Das ist nicht die Zeit, sich des Evangeliums zu schämen. Fürchtet euch nicht, aus eurer bequemen und gewohnten Lebensweise auszubrechen, und antwortet auf die Herausforderung, Christus in der modernen ‚Metropole‘ bekannt zu machen.“ An der Pressetribüne erscheint ein Vertreter des Bundespresseamts. Ein Teil der Fotografen darf nach oben auf den Hügel. Der Blick über das Marienfeld ist atemberaubend. Erst Tausende von Priestern, Bischöfen und Kardinälen in weißen Gewändern. Dahinter die freiwilligen Helfer in roten und die Wachleute in gelben Hemden. Und dann: Eine Million Pilger mit bunten Fahnen, im Gebet vereint. Adriana aus Mexiko und Katharina aus Polen sind auch wieder mit dabei. Wir warten direkt neben dem Papamobil. Am „Ufo“ werden wir von einem Offizier der Schweizer Garde empfangen. Er duldet keinen Widerspruch: „Wenn ich sage ‚Jetzt ist Schluß‘, dann ist auch Schluß.“ In Vierergruppen werden wir an einer der Metallstreben geführt, die die Kuppel tragen. Dort dürfen wir etwa neunzig Sekunden lang Bilder vom Heiligen Vater schießen, der noch immer inmitten seiner Kardinäle die Messe hält. Diesmal hat auch Adriana aus Mexiko Glück. Sie hat nicht vergessen, den Auslöser zu drücken. Fotos: Papst Benedikt XVI., Besucher des Weltjugendtages in Köln: Großleinwände tragen das Ereignis hautnah bis in den letzten Winkel Astrid Krauthausen vor dem WDR-Kasten: „Sprich mit ihm!“ Eine Million Pilger auf dem Marienfeld: Perfekte Organisation Stichwort: Weltjugendtag Um den Auftrag der Neuevangelisierung an die Jugendlichen heranzutragen, hat Papst Johannes Paul II. erstmals 1985 zu einem Weltjugendtag nach Rom eingeladen. Seit diesem Jahr findet jährlich ein Weltjugendtag statt, der normalerweise alle zwei Jahre in einer anderen Stadt gefeiert wird, dazwischen in den jeweiligen Diözesen. Alle Rekorde wurden in Manila gebrochen. Fast vier Millionen Gläubige sorgten bei der Abschlußmesse für die größte Menschenansammlung die es jemals gab. Bis jetzt fanden in folgenden Städten Treffen statt: 1985 Rom 1987 Buenos Aires (Argentinien) 1989 Santiago de Compostela (Spanien) 1991 Tschenstochau (Polen) 1993 Denver (USA) 1995 Manila (Philippinen) 1997 Paris (Frankreich) 2000 Rom (Italien) 2002 Toronto (Kanada) 2005 Köln