Selbstmord-Bombenanschläge sind zwar nicht die Erfindung militanter Moslemfundamentalisten, werden aber immer deutlicher zu ihrem Markenzeichen. Ursachen herauszufinden und Antworten zu entwickeln, ist nun Aufgabe der ganzen Welt. Es geht dabei nicht nur um Sicherheit und Strategien gegen den Terrorismus, sondern um einen Aspekt der totalen Interaktion des Islams mit dem Rest der Welt, vermengt unweigerlich auch mit Konflikten innerhalb der moslemischen Welt, zwischen Staaten, Dynastien, Abspaltungen und Strömungen des mohammedanischen Glaubens. Unser allgemeines Ziel im Westen war lange Zeit und muß auch bleiben: eine friedliche Koexistenz mit dem Islam und ein echtes gegenseitiges Verstehen. Starke Kräfte innerhalb des Islams teilen diese Auffassung gegenwärtig nicht. Aber da sich der Dschihad immer mehr mindestens ebenso heftig gegen moslemische Glaubensbrüder richtet wie gegen uns, gibt es Möglichkeiten für Allianzen und Verständigung. Wir müssen unsere Analyse beginnen, indem wir uns von einigen Märchen verabschieden: Erstens vom marxistischen Dogma, das den moslemischen Terror ökonomischer Unzufriedenheit und Ungerechtigkeit zuschreibt. Und zweitens vom Wunschbilddenken, zum Beispiel, daß der Islam eine Religion des Friedens sei. Wer an Gott und ein Leben nach dem Tod glaubt, wie es Moslems tun, für den nimmt die Wirtschaft, wie wichtig auch immer sie sein mag, doch stets nur einen nachrangigen Platz ein. Jene, die sich einreden, der Islam sein eine friedliche Religion, mögen den Koran lesen und die letzten zwölf Jahrhunderte der Geschichte studieren. Sie mögen auch bedenken, daß die moslemische politische Theologie die Welt in zwei Gebiete einteilt: dar al-islam und dar al-harb – das (befriedete) „Land des Islam“ und das „Land des Krieges“. Der Dschihad wurde seit Jahren von der unglaublich reichen herrschenden Klasse Saudi-Arabiens finanziert und gesteuert als Teil eines heiligen Krieges gegen Christen, Hindus, Juden und gemäßigte Moslems. Ölgelder, die zur ökonomischen Entwicklung hätten verwendet werden sollen, um die wirtschaftliche Zukunft des Landes zu sichern, hat man statt dessen in den Dschihad gepumpt, für Waffen und natürlich auch Luxusleben ausgegeben. Jetzt, da sich der Dschihad auch gegen seine Förderer wendet, gegen seine Financiers und diejenigen saudischen Herrscher, die ihn gutheißen, wird eine neue Front eröffnet. Der gegenwärtige Dschihad ist ein Religionskrieg. Um Parallelen in der europäischen Geschichte zu finden, müssen wir einige Jahrhunderte zurückschauen, als religiöse Differenzen noch im Zentrum der Politik standen und grausame Kriege deshalb geführt wurden. Über Jahrhunderte stand die christliche Welt im permanenten Kampf mit moslemischen Reichen, aber Konflikte innerhalb der Christenheit waren oft ebenso oder noch blutiger. Wir müssen uns zunächst von dem marxistischen Dogma verabschieden, das den moslemischen Terror mit ökonomischer Unzufriedenheit erklärt. Zweitens vom Wunschdenken eines an sich friedlichen Islam. (…) Die Geschichte wiederholt sich in der moslemischen Welt. Dort herrscht quer durch alle Schichten eine Anschauung von ungebremster Religiosität vor, die an das europäische Mittelalter erinnert: Wie damals werden in der moslemischen Welt heute alle Dinge durch die Brille der Religion gesehen. Es ist nicht leicht zu sagen, wie lange dies so bleiben wird, aber zumindest gegenwärtig haben wir uns den Moslem als „homo religiosus“ vorzustellen. Nach der mohammedanischen Theologie werden alle Menschen als Moslems geboren. Falls sie in einem Gebiet anderen Glaubens aufwachsen, so geschieht dies in Mißachtung des Willen Allahs. Der Koran sagt daher deutlich, daß gegen die Ungläubigen Gewalt ausgeübt werden dürfe. Sie können getötet oder versklavt und niemals als vollwertige Bürger anerkannt werden. Während der ersten Jahrhunderte seiner Existenz übertraf der Islam die christliche Welt im Krieg wie im Frieden, was Bildung und Wissenschaft, Architektur und wirtschaftliche Prosperität angeht. (…) Als sich das Blatt wendete und die zunehmend fanatische Zurückweisung wissenschaftlichen Fortschritts auch ihre militärischen Fähigkeiten zu schwächen begann, suchten die Moslems nach Gründen. Bald lehrte die vorherrschende Meinung, daß Allah sie wegen ihrer ungenügenden Frömmigkeit bestraft habe. Die Entdeckung riesiger unterirdischer Ölvorkommen, die den arabischen Regierungen ohne jede Mühe gewaltige Einkommen bescherten, wurden dann als Zeichen von Allahs Güte interpretiert, der seinen Gläubigen die Mittel zum Heiligen Krieg schenke. Das saudische Königshaus, dem Wahhabismus ergeben, einer der obskursten und aggressivsten Varianten des Islam, beteiligte sich zwar offensichtlich führend am Dschihad, war aber (Dank seiner früheren Unterstützung für Briten und Amerikaner) einigermaßen immun gegen die Konterattacke. (…) Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich Dutzende unabhängige Moslemstaaten. Einige sahen es als ein Zeichen, daß der Vormarsch des Islam in früheren Jahrhunderten – Zeichen von Allahs Wohlwollen – wieder begonnen werden muß. Die politische Unabhängigkeit der jungen moslemischen Länder gab den Ressentiments Auftrieb. Trotz des Geldsegens durch das Öl sind die islamischen Gesellschaften nicht wohlhabend, und ihre technologische und militärische Abhängigkeit vom Westen hat zugenommen. Damit bietet sich der Westen als nützlicher Sündenbock an, so wie es die Juden in Europa waren. Der Dschihad ist die Reaktion, die auch durch die Tradition vorgegeben scheint, und Selbstmordanschläge verbinden die moderne Technologie mit dem alten Märtyrerkult. Mit relativ bescheidenen Mitteln kann man so die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzen. Bombenattentate in Allahs Namen hätten ohne weitverbreitete Unterstützung oder zumindest Sympathien in der Bevölkerung, vor allem bei der Moschee, nicht eine derart weite Verbreitung finden können. Die moslemischen Massen identifizieren sich mit den „Zeugen“, also den Märtyrern. Von Marokko bis zu den Philippinen, von Zentralasien bis nach Karatschi, von New York bis Moskau hat die Formel des Bombenselbstmords Nachahmer gefunden. In vielen islamischen Ländern ist die Stimmung eine Mischung aus Verzweiflung und Begeisterung, Haß auf die Ungläubigen und dem Gefühl der Bewunderung für das höchstmögliche Opfer, gutgeheißen von einer breiten öffentlichen Meinung. Die Ursachen der Ressentiments werden nicht verschwinden. Selbst wenn man wie der Autor glaubt, daß die Invasion des Irak kontraproduktiv war und daß Scharons von Amerika unterstützte Politik teilweise in die Sackgasse führt (obwohl unklar ist, was er tun sollte oder könnte), soll man sich nicht täuschen lassen: Hier liegt nicht die Wurzel für das Übel der Selbstmordattentäter. Al Qaida wurde gegründet, als ein israelisch-arabischer Friede in Reichweite schien, als die Sanktionen gegen den Irak zurückgefahren wurden und der Krieg gegen die Russen in Afghanistan längst gewonnen war. Gerade dieser frühe Sieg in Afghanistan, ein historischer Wendepunkt, der durch Fehlkalkulationen des moribunden Sowjetregimes möglich wurde, dieser frühe Sieg war es, der den Funken für die Ausbreitung des Dschihad zündete, erst auf der arabischen Halbinsel einschließlich des verachteten saudischen Königreichs und dann in der ganzen Welt. Hauptvorwurf der Dschihadisten gegen die den Westen verkörpernden USA sind nicht irgendwelche ihrer Taten, sondern ihre bloße Existenz. Das läßt kaum eine Verständigung zu. Ähnliches gilt auch für Israel und andere Ziele des Dschihad. Nicht nur Arabien, auch Nordafrika umfaßt ein gewaltiges Reservoir an Fanatismus und Frust. Nach der blutigen Revolte gegen die Franzosen glaubte man dort, nun werde ein Zeitalter der Frömmigkeit und Gerechtigkeit beginnen, wie es angeblich in den ersten Dekaden islamischer Herrschaft der Fall war. Diese kurze Hoffnung wurde bitter enttäuscht und an ihre Stelle trat ein die religiöse Inbrunst nährender Frust. Unruhen führten zu Bürgerkriegen, zu massenhaftem Mord von Rebellen, zu Vergeltungsschlägen der Regierungen und schließlich zu massenhafter Auswanderung nach Westeuropa. Und die wachsenden Einwanderermilieus in Europa bieten heute Deckung und Bewegungsräume für Terroristen. Die „internationalen Brigaden“ der Mudschaheddin, die Ende der siebziger Jahre nach Afghanistan strömten, um das Land gegen die sowjetische Aggression zu verteidigen, suchten nach erfolgreicher Erledigung ihrer Aufgabe neue Gebiete zur Eroberung. Ermutigt durch die Amerikaner gingen sie nach Bosnien, wo sie für die Errichtung eines fundamentalistischen moslemischen Regimes kämpften, das alle Verbindungen zu den serbischen Nachbarn kappen wollte. Die Mudschaheddin radikalisierten die bosnischen Moslems, die eine weitere Koexistenz mit den Serben vorgezogen hätten. Auch Osama bin Laden befand sich unter jenen, die Bosnien besuchten und dort die Mudschaheddin aufzubauen halfen. Die „Afghanen“ stellten Verbindungen zu islamistischen Kreisen in Ägypten her, wo die fundamentalistische Tradition schon in die 1920er Jahre zurückreicht. Nach der Eroberung des Iraks durch die Amerikaner fanden Dschihadisten auch ihren Weg in den Irak, wo sie als franc tireurs kämpfen, in den Jemen, nach Indonesien und in die südlichen Philippinen. Obwohl die jetzige Regierung Pakistans eine lauwarme Position zum islamistischen Terrorismus einnimmt, genießen die Dschihadisten doch beträchtliche Unterstützung in den Stammesgebieten an der nordwestlichen Grenze und bei Teilen des pakistanischen Militärgeheimdienstes, der die Taliban ja überhaupt geschaffen, den Terrorismus in Kaschmir begünstigt und die lokalen Dschihadisten auszubilden und zu finanzieren geholfen hat. Wichtig für den Westen ist es, über die reine Abwehr des Terrors hinauszugehen und sich seines eigenen Selbstverständnisses zu versichern. Dazu müssen wir das jüdisch-christliche Erbe neu entdecken. Allerdings scheint der Dschihad sein eigenes Gegengift zu erzeugen. Wie alle revolutionären Bewegungen bekommt er eine Eigendynamik, die immer weiteren Extremismus erzeugt und schließlich die Kinder der Revolution auffressen mag. Ein Extremismus, der einen gewissen Punkt überschreitet, gewinnt nur noch wenig neue Freunde, schafft sich aber einen großen Kreis von Feinden. Obwohl die saudischen Herrscher den weltweiten Dschihad finanzierten, galten sie wegen ihrer Abhängigkeit von westlichen Waffen und wegen der strategischen Unterstützung des Kriegs gegen den Irak in den Augen der noch extremeren Radikalen als Verräter. Das „ich bin heiliger als Du“-Spiel ließ neue Feindschaften entstehen. Das saudische Königreich leidet unter schweren ökonomischen und sozialen Problemen, die vom parasitären Wesen seines Regimes und seiner Wirtschaft herrühren. Die Saudis leben von unverdienten Öleinnahmen, sind aber abhängig von fremden Experten und Arbeitern und bieten dabei nicht einmal entsprechende Beschäftigungsmöglichkeiten für ihre eigene, rasch wachsende Bevölkerung. Auch das saudische Herrscherhaus sieht nun keine Alternative zu den drakonischen Maßnahmen, die in jedem Fall besser sind als ein interner Dschihad. So wandelt sich der Krieg gegen die Ungläubigen in einen Krieg zwischen Muslimen. Die geänderte Dschihad-Strategie der saudischen Herrscher muß nicht notwendigerweise schnelle Resultate zeitigen, da der Dschihad noch genug Ressourcen und Kämpfer weltweit zur Verfügung hat. Aber über längere Zeit wird der saudische Politikwechsel, weg von der Unterstützung des Dschihad mit Petrodollars hin zu seiner Unterdrückung, doch Wirkung entfalten. Schon gibt es Anzeichen, daß sich aus demselben Grund – dem Selbsterhaltungstrieb – das Denken auch bei der indonesischen, der jemenitischen und der libyschen Regierung wie in den früheren zentralasiatischen Ländern zu ändern beginnt. Da es wenig Möglichkeiten gibt, die Bombenattentäter und ihre Scheichs zu beschwichtigen, und da es Jahrzehnte dauern wird, die Ursachen für die Unzufriedenheit auch nur teilweise zu beseitigen, ist der Spielraum für Gegenaktivitäten eingeschränkt. Internationale Sicherheitsnetzwerke und die selektive Zusammenarbeit mit moslemischen Regierungen, die sich aus Selbstschutzgründen gegen den Dschihad stellen, gehören dazu. Ein gemeinsamer Feind ist die beste Voraussetzung für eine feste Allianz. Im Westen leben heute große moslemische Minderheiten. In seiner Zeit als Berater der britischen Politik hat der Autor stets argumentiert, daß es ein Fehler sei, diese hereinzulassen, da die Masseneinwanderung unverdaubare fremde Minoritäten, politischen Druck und Nährboden für Dschihadisten schafft. Aber es wäre jetzt ein ebenso großer Fehler, sie aus Panik ohne Unterscheidung so harsch zu behandeln, wie etwa die Amerikaner 1941 mit ihren japanisch-stämmigen Bürgern verfuhren. Sicherheit begründet man am besten auf Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit. Da es unser Schicksal ist, den Planeten mit Moslems zu teilen, müssen wir diese Phase der Beziehungen aussitzen. Wichtig für den Westen wird zudem sein, über die reine Abwehr des Terrorismus hinauszugehen und sich seines Selbstverständnisses zu vergewissern. Dazu müssen wir wieder die Bedeutung des jüdisch-christlichen Erbes für das 21. Jahrhundert entdecken. Sir Alfred Sherman , geboren 1912, kämpfte als junger Kommunist im spanischen Bürgerkrieg und löste sich anschließend vom Marxismus. 1974 war er Mitbegründer des konservativen Centre of Policy Studies (CPS) und einer der engsten Berater von Premierministerin Margret Thatcher. Der vorliegende Aufsatz wurde mit freundlicher Genehmigung der britischen Zeitschrift „Right Now“ entnommen. Foto: König Fahd-Stadion in Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens: „Die Entdeckung riesiger Ölvorkommen wurde als Zeichen von Allahs Güte interpretiert, der ihnen die Mittel zum Heiligen Krieg schenkte.“