Das nächste Jahr wird ereignisreich auf allen Ebenen sein, auf der kulturellen, ökonomischen und politischen. Kulturell ist der 60. Jahrestag des Kriegsendes bestimmend, der mit der Einweihung des Holocaust-Denkmals verbunden wird. Damit wird symbolisch dekretiert, was Deutschland war, ist und bleiben soll: das Land des Tätervolks! Trotzdem wird es 2005 weniger aufgeregt zugehen als 1985 oder 1995. Vor 20 Jahren verkündete das Staatsoberhaupt das „Befreiungs“-Dogma – ursprünglich eine DDR-Idee -, zehn Jahre später wurde das „Tätervolk“-Dogma proklamiert. Spektakuläre Ausstellungen, Kampagnen und Beschlüsse haben es entfaltet und popularisiert. Ganz Verrückte gehen inzwischen dazu über, Denkmäler für alliierte Bombenwerfer zu errichten statt für deutsche Bombenopfer. Das alles könnte für die Protagonisten dieser Politik Grund genug sein, ihren totalen Sieg zu feiern, doch sie werden seiner nicht froh. Allgemeine Erschöpfung hat sich breitgemacht. Handelt es sich um die Inkubationsphase, der die Tendenzwende folgt? Der Bochumer Zeitgeschichtler Norbert Frei spricht von einer bevorstehenden „Erinnerungsschlacht“, an deren Ende die „Umcodierung“ des jetzigen Geschichtsbildes stehen könnte. So schlimm wird es 2005 nicht kommen, denn der Zugang zu den großen Medien, wo allein diese „Schlacht“ stattfinden könnte, wird von denen, die die Umcodierung verhindern wollen, streng kontrolliert. Gegenwehr kann nur mittels Partisanentaktik stattfinden. Man wird, im bescheidenen Rahmen, immer wieder auf Fakten, auf globale und europäische Zusammenhänge verweisen müssen, die im provinziellen BRD-Geschichtsbild ignoriert werden, im Vertrauen darauf, daß damit die Saat des Zweifels gestreut wird. Der ideologische Dogmatismus ist eine unhistorische, abstrakte Denkweise, die von konkreten Bedingungen und Erfahrungen absieht. Wegen seiner realitätsfernen Starrheit kann man ihn auch nicht – wie es der normale Lauf der Wissenschaft ist – ergänzen, erweitern und dialektisch aufheben. Es ist sein Schicksal, eines Tages selber auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen. Was ihm an Wissenschaftlichkeit fehlt, wurde bislang durch moralische Überhöhung kompensiert. Das ist der zweite Ansatzpunkt: Man wird verstärkt die Machtinteressen entlarven müssen, die sich hinter dem forcierten Moralismus verbergen. Das ist die effektivste Form seiner Delegitimierung. Im ökonomischen und sozialen Bereich werden die Hartz-IV-Gesetze einen scharfen Einschnitt markieren. Die Regierung hofft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu beleben und gleichzeitig die Sozialkassen zu entlasten. Es kann aber auch ganz anders kommen. Schon heute gibt es Anzeichen dafür, daß reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abgebaut und in staatlich subventionierte Billigjobs aufgeteilt werden. Damit wäre das einzige Zukunftsprojekt, mit dem Rot-Grün seinen Machtanspruch öffentlich begründet, entfallen. Bei Hartz IV geht es in der Hauptsache nicht um einige hunderttausend Langzeitarbeitslose, deren Status als Arbeitnehmer im Wartestand in der Tat bloß noch fiktiv ist, sondern um die Drohung an die Mittelschichten, daß alle ihre wohlerworbenen Rechte und Sicherheiten außer Kraft gesetzt sind. Tüchtige, sparsame, vorausschauende Leute werden, wenn sie erst einmal in die Arbeitslosigkeit geraten sind, mit Entsetzen bemerken, daß sie sich in einem Fahrstuhl befinden, der sie rasant nach unten verfrachtet. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit werden sie gezwungen sein, Konten, Versicherungen, Guthaben aufzulösen und die Reduktion ihrer „persönlichen Würde (auf) den Tauschwert“ (Karl Marx) hinzunehmen. Diese Entwicklung wird das individuelle Selbstbild, aber auch das Bild vom Staat und die persönlichen Beziehungen zu ihm verändern. Der einzelne Bürger wird – vielleicht – künftig genauer hinschauen, wofür der Staat, der für ihn kein Geld mehr hat, denn die Milliarden an Steuern und Abgaben hinausreicht, er wird sich – vielleicht – politisch stärker engagieren. Es war stets zu billig, einen Manichäismus zwischen dem „guten Volk“ und seiner pflichtvergessenen politischen Klasse zu konstruieren. Viel zu lange wurde dieses Land von einer kollektiven Sattheit und Passivität beherrscht. Sie bildeten die Voraussetzung dafür, daß die etablierten Parteien es von Jahr zu Jahr toller treiben konnten. Es lag eine Korrumpierung auf Gegenseitigkeit vor. Vielleicht wird Hartz IV, was die Wiedervereinigung nicht werden durfte: ein politisches Erweckungserlebnis! Für die Lethargie und Alternativlosigkeit, die in Deutschland die Politik beherrscht, ist es symptomatisch, daß die Aussicht auf die zwei Ereignisse, welche der politischen Sphäre unmittelbar angehören – die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen – nur ein großes Gähnen auslöst. Noch vor einem halben Jahr galt es als ausgemacht, daß die CDU den beiden letzten rot-grünen Landesregierungen den Garaus bereitet und qua Zweidrittelmehrheit im Bundesrat die Bundesregierung genüßlich erdrosselt. Die Union war aber nie aus eigener Kraft stark, sondern nur dank der Schwäche der SPD. Ab dem Moment, wo die Sozialdemokraten sich mit dem Mut der Verzweiflung wieder ermannten, wirkte die Union schwächlicher als je zuvor. Ihr Kandidat in Kiel gilt sogar in den eigenen Reihen als blaß. Aber auch in Nordrhein-Westfalen trauen immer weniger dem CDU-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers zu, sich gegen den scharfzüngigen Amtsinhaber Peer Steinbrück (SPD) durchzusetzen. Steinbrück ist kein Mann zum Herzerwärmen, doch genau deswegen könnte er den Wählern den Eindruck vermitteln, daß er für harte Zeiten der Richtige ist. Rüttgers dagegen, obwohl er sich betont dynamisch gibt, traut man außer einem schweißigen, weichlichen Händedruck nichts zu. Er personifiziert den Zustand der Union: rückgratlos, überzeugungsfrei, opportunistisch, geduckt vor dem Zeitgeist und die eigene Ängstlichkeit als modernen Pragmatismus anpreisend. Doch die totale Preisgabe der bürgerlichen Selbstachtung wirkt nicht modern, sondern hündisch und löst leichten Ekel aus. Verliert die Union die beiden Landtagswahlen, dann ist Kanzler Schröder endgültig in der politischen Offensive für die Bundestagswahlen 2006. In der Union wird die Aussicht, bis 2010 auf der Oppositionsbank sitzen zu müssen, mindestens eine tiefe Depression auslösen. Noch besser wäre eine Agonie. Denn was schlecht ist für bürgerliche Opportunisten, das ist gut für das Land.