BERLIN. Im Gegensatz zur NPD, gegen die es zwei erfolglose Verbotsverfahren gab, handele es sich bei der AfD nicht um eine rechtsextremistische Partei, meint der erfahrenste Extremismusforscher Deutschlands, Eckhard Jesse. Der heute 76jährige trat vor dem Bundesverfassungsgericht auch als „sachkundiger Dritter“ bei den beiden Verbotsverfahren gegen die NPD auf.
In einem Gastbeitrag für die Welt schreibt Jesse, die NPD sei nur deshalb nicht verboten worden, „weil es ihr an der Potentialität fehle, die eigenen Ziele umzusetzen“. Bei der AfD liege der Fall „ganz anders“. Weder sei sie „einflußlos“ noch agitiere sie „aggressiv-kämpferisch gegen die freiheitliche Ordnung“.
Die 2013 gegründete Partei sei vielmehr „janusköpfig“ und umfasse „ein Sammelsurium von wirtschaftsliberalen, nationalkonservativen, ordnungsbewußten, populistischen, verschwörungsmythischen, nationalistischen und völkischen Positionen, darunter Extremisten, die mit demokratischen Prinzipien hadern, sie geradezu negieren“. Jesse nennt die AfD daher „semi-extremistisch“.
Jesse: Hochstufung nicht angemessen
Doch die entscheidenden Fragen lauteten: „Haben sie die Mehrheit, bestimmen sie den Kurs? Ist eine solche Hochstufung folglich angemessen?“ Jesse kommt zu dem Schluß: „Da in der Partei weder das Machtzentrum noch die Majorität der Mitglieder extremistisch ist, lautet die Antwort: nein.“

Jesse erinnert daran, daß sich die AfD bereits im Januar 2021 zum „deutschen Staatsvolk“, zu dem auch alle eingebürgerten Migranten gehören, bekannt hatte. Damals formulierte die Partei: „Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht.“ Im nächsten Absatz schrieb sie aber auch: „Gleichwohl ist es ein völlig legitimes politisches Ziel, welches sowohl dem Geist als auch den Buchstaben des Grundgesetzes entspricht, das deutsche Volk, seine Sprache und seine gewachsenen Traditionen langfristig erhalten zu wollen.“
Dieser letzte Satz sei der „Stein des Anstoßes“. Die Unterscheidung zwischen dem „deutschen Staatsvolk“ und dem hofierten „deutschen Volk“ laufe, so faßt Jesse die Extremismus-Vorwürfe zusammen, „auf ein Erstarken des letztgenannten hinaus“. Auf seine selbstgestellte Frage, ob das schlimm oder „gar antidemokratisch“ sei, legt sich der Extremismusforscher fest: „Man kann, muß jedoch nicht eine multiethnische Gesellschaft präferieren. Verfassungswidrig vermag nur der Ausschluß anderer Ethnien aus dem ‚deutschen Staatsvolk‘ zu sein. Dafür fehlen jedenfalls bei den tragenden Kräften der AfD gewichtige Anhaltspunkte.“
„Ein Verbotsantrag bleibt aus guten Gründen aus“
Jesse kritisiert auch, daß das 1.100-seitige Verfassungsschutz-Gutachten unter Verschluß bleibe: „Ein Umgang mit mündigen Bürgern sieht anders aus. Transparent ist das nicht, wobei die Fülle der meist ohnehin bekannten Zitate nicht überraschen dürfte, wie erste Durchstechereien belegen.“
Die Hochstufung, die die dem Innenministerium zugeordnete Behörde am Donnerstag für das laufende Gerichtsverfahren gegen das Gutachten wieder aussetzte, habe auch politische Folgen. Die Brandmauer werde höher gezogen, und daß AfD-Abgeordnete Ausschußvorsitze im Bundestag erhielten, sei „nun unrealistisch, ebenso das Hoffen der AfD auf eine finanzielle Förderung ihrer Desiderius-Erasmus-Stiftung“.
Auch werde „die leidige Verbotsdiskussion, die als Drohkulisse dient“, weiter befeuert. Dabei wisse jeder Extremismusforscher: „Ein Verbotsantrag bleibt aus guten Gründen aus. Auch werde der AfD nicht der „staatliche Geldhahn“ abgedreht: „Denn die Kriterien dafür sind keine anderen als die für ein Parteiverbot.“ (fh)