Ein Gespenst geht um in den Parteizentralen des Landes und im Berliner Regierungsviertel. „Verwaiste Wahlkreise“ nach der Bundestagswahl am 23. Februar. Denn der 21. Deutsche Bundestag wird nach dem neuen Wahlrecht gewählt. Das höchste deutsche Parlament wird kleiner: Statt derzeit 733 werden in der neuen Wahlperiode nur noch 630 Abgeordnete dem Bundestag angehören. Die Anzahl der Wahlkreise bleibt unverändert bei 299.
Ziel der Reform war es, die ständige Vergrößerung des Bundestags durch sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate zu stoppen. Darüber waren sich vor knapp zwei Jahren Koalitions- und Oppositionsfraktionen noch einig. Vom „Bläh-Bundestag“ war abfällig die Rede. Doch nach der Reform sahen sich CSU und Linke in ihrer Existenz bedroht.
Teilerfolg vor dem Verfassungsgericht
Mit ihrem Organstreitverfahren erreichten sie einen Teilerfolg. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Kern der Reform, das System der „Zweitstimmendeckung“ als mit dem Grundgesetz vereinbar, hielt aber eine starre Fünf-Prozent-Sperrklausel wegen des Verstoßes gegen die Wahl- und Chancengleichheit für verfassungswidrig.
Der neue Begriff „Zweitstimmendeckung“ weist darauf hin, daß die Wähler weiterhin zwei Stimmen abgeben können. Wie bisher wird mit der Erststimme ein Wahlkreisbewerber vor Ort in einem der Wahlkreise gewählt und mit der Zweitstimme, der eigentlichen Hauptstimme, die Landesliste einer Partei. Doch künftig wird das Zweitstimmenergebnis alleiniger Maßstab für die Zusammensetzung des Bundestages sein.
Denn aus dem Zweitstimmenergebnis ergibt sich die Zahl der Sitze, die einer Partei im neu gewählten Parlament zustehen. So ist denkbar, daß Gewinner von Direktmandaten im Wahlkreis nicht in den Bundestag einziehen dürfen. Ihre Wahlkreise wären dadurch „verwaist“, also gar nicht im Parlament vertreten.
Es trifft vor allem die Union
Besonders betroffen dürften CDU und CSU sein, die traditionell die meisten Direktmandate holen. Die Neuregelung besagt, wenn eine Partei (wie die Union) mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen Sitze zustehen, bleiben die Sieger mit den schwächsten Ergebnissen in den Wahlkreisen draußen. Ein Beispiel: Bei der Wahl 2021 holte der CDU-Kandidat Lars Rohwer das Direktmandat in Dresden mit gerade mal 18,6 Prozent.
Ein schlechtes Direktwahlergebnis mit künftig wenig Chancen für eine Fahrkarte nach Berlin. Kritiker bemängeln, Wahlkreise ohne Direktmandat im Bundestag würden die Politikverdrossenheit verstärken. Wenn niemand über die Landesliste ins Parlament einziehe, würden die Interessen der Großstädte im Bundestag unterrepräsentiert.
Bis zu 30 Wahlkreise ohne Repräsentaten
„Verwaiste Wahlkreise“ sind in Städten wahrscheinlicher als auf dem Land. In den Städten ist der Wettbewerb härter, die Stimmanteile der Kandidaten liegen näher beieinander. Bei der Verabschiedung der Reform im Bundestag hatten Vertreter der Ampel-Koalition zu beruhigen versucht, das Problem verwaister Wahlkreise sei überschaubar.
Doch neueste Berechnungen von Politikwissenschaftlern deuten an, daß es am 23. Februar über 30 werden könnten. Beispiel Baden-Württemberg. Nach aktuellen Umfragen könnte etwa die CDU dort fast alle 38 Wahlkreise gewinnen, aber mit der Zweistimme nur auf etwa 30 Prozent kommen. Die bittere Folge: Acht Wahlkreiskönige würden leer ausgehen. Beispiel Bayern. Die CSU hatte 2021 über die Erststimmen 45 von 46 Wahlkreise gewonnen. Das sind neun Mandate mehr als die 36 Sitze, die ihr nach dem Zweitstimmenanteil eigentlich zustehen. Neun Mandate waren durch den Zweitstimmenanteil nicht mehr gedeckt.
Die Grundmandatsklausel gilt auch im neuen Wahlrecht
Verläßliche Prognosen über die Zahl verwaister Wahlkreise sind gleichwohl kaum möglich. Denn entscheidend ist auch, wie viele Parteien ins Parlament kommen oder an der Fünfprozenthürde scheitern. Es geht um die FDP, die Linke und das BSW, die den Umfragen zufolge an der magischen Marke von fünf Prozent scheitern könnten. Doch es gibt eine Ausnahme, die die Ampel-Koalitionäre eigentlich abschaffen wollten. Auch 2025 gilt die Grundmandatsklausel. Werden von einer Partei bundesweit mindestens drei Abgeordnete per Erststimme direkt gewählt, gilt für die Partei die Fünfprozenthürde nicht. Davon hatte bei der vergangenen Wahl die Linke profitiert.
Sie kam nur auf 4,9 Prozent der Stimmen, zog aber mit 39 Abgeordneten in den Bundestag. Auf die Grundmandatsklausel setzt die Linke auch am 23. Februar. Gezielt wird der Wahlkampf auf drei Wahlkreise konzentriert. Als „Wahlkampflokomotiven“ wurden Linken-Oldie Gregor Gysi und die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner in Berlin, der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann in Leipzig, Thüringens Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow in Erfurt sowie Ex-Fraktionschef Dietmar Bartsch in Rostock ausgeguckt. Nur die Linke hat Chancen auf Direktmandate, die FDP und das BSW nicht.
Union will Reform der Ampel rückgängig machen
Schafft es die Linke in den Bundestag, hätte dies Auswirkungen auf die Zahl „verwaister Wahlkreise“. Denn die Gesamtsitzzahl von 630 Mandaten müßte dann an noch weniger Fraktionen verteilt werden, was zu mehr Mandaten und damit auch zu mehr Zuteilungen von Direktmandaten führt. Ohne Direktmandatsgarantie werden also viele Abgeordnete in der Wahlnacht ihr Stimmergebnis und das Abschneiden der Linken genau im Auge haben.
Eine weitere Ausnahme sei hier nur kurz erwähnt. Eine Partei, die nationale Minderheiten vertritt, wie der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) die dänische Minderheit, muß nur so viele Stimmen gewinnen, daß ihr nach dem Berechnungsverfahren ein Sitz zusteht. 2021 hat es der SSW-Politiker Stefan Seidler geschafft, der als fraktionsloser Abgeordneter im Bundestag sitzt.
Eine offene Frage bleibt zunächst, ob das neue Wahlrecht das Wahlverhalten ändert. Da die Direktwahl abgewertet und die Listenwahl aufgewertet wird, dürften am 25. März weniger Wähler ihre Stimme splitten. Die taktische Überlegung, unabhängig von der Zweitstimme, „mein“ Direktkandidat kommt in jedem Fall nach Berlin, zieht nicht mehr. Berechnungen zufolge haben 2021 etwa ein Viertel der Wähler mit der Erststimme eine andere Partei als mit der Zweitstimme gewählt. CDU/CSU haben bereits angekündigt, sie würden das Wahlrecht im Fall eines Wahlsiegs erneut ändern.