Daß sich Gesellschaften selbstbestimmt verwandeln und verbessern, gehört zu den Wunschvorstellungen aller Utopien. Das Gegenteil ist die Fremdbestimmung, die von außen über einen Staat oder eine Gesellschaft hereinbricht. Eines der abschreckendsten Beispiele für einen solchen exogenen Wandel von Gesellschaften ist die Vergewaltigung der osteuropäischen Staaten durch den Sowjetkommunismus nach 1945, ein milderer, wenngleich kaum weniger tiefgreifender Wandel war die Amerikanisierung der mittel- und westeuropäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg.
Bei diesen und ähnlichen Wandlungsprozessen sind die betroffenen Gesellschaften nur Objekte der Veränderung. Wie aber steht es mit der Fähigkeit von Gesellschaften, sich selbst planmäßig nach bestimmten Vorgaben zu verändern? Kann es Nationen beziehungsweise ihren Regierungen gelingen, sich die Errungenschaften anderer anzueignen und den eigenen Zielen nutzbar zu machen?
Dergleichen Großversuche hat es in der neueren Geschichte immer wieder gegeben. Die bekanntesten Beispiele sind die Reformen Peters des Großen, die Modernisierungen Kemal Atatürks in der Türkei und der Aufbau der „Großen Zivilisation“ durch Schah Reza Pahlewi im Iran. Diese Projekte sind alle mehr oder weniger gescheitert.
Musterschüler im fernen Osten
Zwar konnten diese Staaten ihre wirtschaftliche und politische Macht tendenziell steigern, aber um den Preis einer verstärkten inneren Repression. Denn das scheint das Hauptproblem eines staatlich organisierten Zivilisationstransfers zu sein: Das traditionelle Wertefundament der Gesellschaft kollidiert mit der Zweckrationalität neuer technologischer Kompetenzen und behindert ihre Durchsetzung. Im Iran führte das Beharren auf traditionellen Werten zu einer religiösen Revolution, die große Teile der Modernisierung hinwegfegte, in der Türkei wurden zuletzt unter Erdoğan viele Elemente der Modernisierung rückabgewickelt.
Ein völlig anderes Bild bietet Japan, dem es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einer beispiellos intensiven Lernphase gelang, sich überlegene technologische und zivilisatorische Techniken des Auslands anzueignen, um innerhalb einer Generation zu einer Großmacht aufzusteigen, die mit den westlichen Mächten auf Augenhöhe interagieren konnte.
Dabei waren Japans Startbedingungen alles andere als vielversprechend. Nachdem sich Japan unter dem Tokugawa-Shogunat seit dem Jahre 1600 ein ganzes Vierteljahrtausend lang hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen hatte, erzwangen die westlichen Mächte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit rüden Methoden den Zugang zum japanischen Markt. Geradezu beispielgebend für das dabei angewandte Prozedere war der Auftritt des amerikanischen Kommodore Matthew Calbraith Perry, der im Jahre 1854 mit seinem Flottengeschwader die Öffnung japanischer Häfen erzwang. Das Shogunat erwies sich als unfähig, sich zu wehren und war gezwungen, eine Reihe sogenannter „ungleicher Verträge“ abzuschließen.
Von Deutschland lernen
Nicht nur, aber auch wegen dieser außenpolitischen Demütigung kam es nur wenige Jahre später zur „Meji-Restauration“ (1868). Der Kaiser, der unter dem Shogun nur eine protokollarische Rolle gespielt hatte, ergriff wieder die absolute Macht. Eine schonungslose Bestandsaufnahme der neuen Elite ergab einen niederschmetternden Befund: Japan war in seiner aktuellen Verfassung unfähig, sich in der modernen Welt zu behaupten, wenn es sich nicht innerhalb kürzester Zeit jene Fähigkeiten aneignete, denen die westlichen Mächte ihre Überlegenheit verdankten.
Eine zentrale Rolle in diesem Adaptionsprozeß spielte die japanische Iwakura-Mission, die von 1871 bis 1873 knapp zwei Jahre lang als Gesandtschaft die Welt bereiste. Iwakura Tomoni, dem Namensgeber und Leiter der Delegation, standen insgesamt 107 Personen zur Seite, unter ihnen Vertreter aller relevanten Ministerien und sechzig Studenten, die in den besuchten Ländern zur Ausbildung zurückgelassen wurden. Als Glücksfall für die Geschichtswissenschaft erwies sich der Umstand, daß in Gestalt von Kume Kunitake ein begnadeter Chronist zur Verfügung stand, der nach Abschluß der Mission im Jahre 1878 sein fünfbändiges Werk über die Iwakura-Reise veröffentlichte, das von heute aus wie eine Bestandsaufnahme der damaligen Welt mit japanischen Augen gelesen werden kann.
Die Reise begann am 23. Dezember 1871 in Yokohama und führte zunächst in die Vereinigten Staaten, dann im August 1872 nach Großbritannien und Frankreich. Im März 1873 wurde die Gesandtschaft in Deutschland begrüßt. Bismarck selbst gab einen Empfang für die Delegation und empfahl Japan den Aufbau einer robusten Wehrfähigkeit. Besonders beeindruckt waren die Japaner von der Audienz bei Kaiser Wilhelm I., dem Kontakt zu Helmuth Graf von Moltke sowie dem Besuch der Krupp-Werke in Essen. Nach Besuchen in München, Hamburg und Frankfurt und einem Abstecher nach Skandinavien ging die Reise weiter nach Italien und zur Weltausstellung nach Wien. Im Juli 1873 bestiegen die Mitglieder der Delegation ein Schiff in Marseilles, das sie im September 1873 zurück nach Yokohama brachte.
Japans glückliche Reformen
Nach der Rückkehr der Delegation wurden die Erkenntnisse der Reise gleichsam in einen Masterplan übersetzt, um das Know-how der Nationen für sich zu nutzen: Britische Innovationen im Flottenbau, das französische und deutsche Schulwesen, die preußische Heeresverfassung und Medizinerausbildung, die amerikanische Waffentechnologie und vieles andere mehr flossen ein in einen planmäßig betriebenen Umbau von Staat und Gesellschaft. Auch der Rat des deutschen Reichskanzlers wurde befolgt: Innerhalb kürzester Zeit schuf Japan eine schlagkräftige Armee und Marine, mit denen es zum Staunen der Welt die Riesenreiche China (1894) und Rußland (1904/05) besiegte und zur asiatischen Großmacht aufstieg.
Es stellt sich die Frage, warum im Falle Japans das weitgehend gelang, was Peter dem Großen und Kemal Atatürk nur sehr unvollkommen und Schah Reza Pahlewi überhaupt nicht glückte. Dafür waren zwei Gründe maßgeblich. Erstens die religiöse und politische Autorität des japanischen Kaisers, der als leiblicher Gott über allem Wandel stand. Eine auch nur im Ansatz vergleichbare Autorität hatten weder der Zar, der türkische Präsident oder der iranische Schah besessen. Ganz im Gegenteil war ihre Legitimität durch die Reformen selbst schwer in Mitleidenschaft gezogen worden.
Der zweite Unterschied erscheint fast noch wichtiger. Peter der Große hatte zahlreiche technologische Reformen eingeleitet, indem er ausländische Fachkräfte importierte. Ganz ähnlich verfahren übrigens heute die Vereinigten Arabischen Emirate. Ganz anders in Japan. Die japanische Gesellschaft erwies sich als fähig, aus sich heraus Zigtausende kompetente und lernwillige Studenten in fremde Länder zu schicken, die nach ihrer Ausbildung nach Japan zurückkehrten, um das Gelernte zum Nutzen ihres Landes anzuwenden.
Ein Letztes kommt hinzu, was in der Soziologie gerne als der Unterschied von Technologie- und Werte-Import beschrieben wird. Das japanische Wertesystem, das heißt die die stark ausgeprägte Gemeinschafts- und Gefolgschaftsmentalität, blieb erhalten und entfaltete im Rahmen der wettbewerbsbezogenen industriellen Produktionsweise eine erstaunliche Effektivität.
Japaner erleben in Deutschland einen Staat im Niedergang
Die Zeugnisse der Iwakura-Mission, namentlich der Bericht von Kume Kunitake, sind aber auch noch in anderer Hinsicht lehrreich. Sie bieten einen Blick von außen auf die westlichen Völker und ihre Eigenarten, was sich zum Beispiel bei Kunitake wie folgt anhört: „Die Preußen leben im Norden in rauhen und kalten Gebieten. Diese widrigen Umstände haben sie aber nicht entmutigt, sondern ihre Durchhaltekraft zusätzlich gestärkt. In Kriegsdingen sind sie energisch und tapfer, oft neigen sie zu großer Härte.
Nach und nach unterwarfen sie ihre Nachbarn, und uns schien, als ob die Atmosphäre in Berlin deshalb eine gewisse Arroganz und Aggressivität ausstrahlte.“ Ganz anders dagegen heißt es über die Österreicher: „Österreich hingegen ist ein Land gesegnet mit fruchtbaren Böden und einem milden Klima. (…) Dieser Reichtum begünstigte das etwas sanftere Wesen der Österreicher.“ Über die Deutschen im allgemeinen notiert Kunitake, sie seien „grundanständig“, „tüchtig“ und auch unter schwierigen Bedingungen mit Gleichmut gesegnet. Es ist geradezu rührend zu lesen, mit welcher Höflichkeit, Lernbereitschaft und Einfühlungsbereitschaft die Gäste aus Fernost die Völker des Westens beschreiben.
Allerdings haben sich die Verhältnisse anderthalb Jahrhunderte nach der Iwakura-Misison fundamental gewandelt. Geschichtsbewußte Japaner, die heute gerne auf den Spuren Iwakuras mit Kurzfassungen des Reiseberichtes von Kame Kunitake durch Europa reisen, erleben namentlich in Deutschland die Außenansicht einer Gesellschaft im Niedergang. Japan hat seit 1873 seine Grenzen im wesentlichen bewahrt, Deutschland ist in der Mitte Europas auf die Größe eines Rumpfstaates geschrumpft. Japan, das trotz seiner technologischen Weltoffenheit seine kulturelle und demographische Besonderheit wie einen Schatz hütet, erlebt seinen ehemaligen Lehrmeister Deutschland als ein Land, das im Strudel von Masseneinwanderung, Klimareligion und Wokismus um seine Identität kämpfen muß.