Es war der Tag der Annalena Baerbock. Als die Nationale Sicherheitsstrategie nach langen Geburtswehen in der vergangenen Woche in der Bundespressekonferenz das Licht der Öffentlichkeit erblickte, stand die Außenministerin im Mittelpunkt – zumindest was die Länge ihrer Wortbeiträge betrifft. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) und erst recht Verteidigungsminister Boris Pistorius und Innenministerin Nancy Faeser (beide SPD), die ebenfalls auf dem Podium saßen, wirkten fast wie Statisten.
Was die hochkarätigen Mitglieder des Kabinetts der Hauptstadtpresse zu verkünden hatten, ist tatsächlich bemerkenswert: Erstmals in der Geschichte hat eine Bundesregierung eine sogenannte Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt. Das Papier soll die Grundlage für eine „Politik der Integrierten Sicherheit“ legen, mit der Berlin künftig auf die weltpolitischen Herausforderungen einer instabiler werdenden Weltordnung reagieren will. Um die Sicherheit gegen Bedrohungen von außen zu gewährleisten, sollen künftig alle relevanten Akteure zusammenwirken und koordiniert handeln.
Auch wenn in Zukunft der Bundeswehr als bewaffneter Streitmacht dabei eine entscheidende Rolle zukommt, läßt das Papier keinen Zweifel daran, daß der Sicherheitsbegriff deutlich weiter gefaßt ist als die Abwehr militärischer Angriffe oder Bedrohungen. Er meint ebenso etwa den Kampf gegen den Klimawandel, das Anlegen von Nahrungs- und Energiereserven für den Notfall, die Abwehr von Cyber-Angriffen, den Katastrophenschutz, den Schutz der kritischen zivilen Infrastruktur wie Strom- und Energieleitungen oder aber die Wasserversorgung.
Kanzleramt und Auswärtiges Amt streiten
Ein wichtiger Punkt aus Sicht der Bundeswehr ist die konkrete Verpflichtung Deutschlands, künftig das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bei den Verteidigungsausgaben einzuhalten. Allerdings ist diese Verpflichtung mit dem Zusatz „im mehrjährigen Durchschnitt“ versehen. Laut Lindner bedeutet das, daß das Nato-interne Ziel jeweils im mehrjährigen Mittel erreicht werden solle, nicht aber zwingend in jedem einzelnen Bundeshaushalt. Skeptiker sehen in dieser Formulierung indes einen Ansatzpunkt, das Zwei-Prozent-Ziel bei Bedarf wieder auszuhebeln.
Die nun vorgelegte Sicherheitsstrategie, die angesichts der aktuellen Krisen als eine durchaus nachvollziehbare Idee erscheint, war alles andere als eine leichte Geburt. Gut 15 Monate brauchten SPD, Grüne und FDP, um sich auf eine gemeinsame Fassung zu einigen. Eigentlich sollte sie bereits im Februar auf der renommierten Münchner Sicherheitskonferenz unter den Augen der Weltöffentlichkeit präsentiert werden. Doch die ganz große internationale Bühne blieb dem Lieblingsprojekt von Baerbock verwehrt. Zu groß waren die Differenzen zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt.
Dieser Konflikt, der sich über Monate hinzog, hatte viel mit der Frage zu tun, ob die Außenministerin oder der Kanzler in der integrierten Sicherheitspolitik die entscheidenden Impulse gibt. Ein Streitpunkt, über den bis zum Ende in der Ampel-Koalition keine Einigung erzielt werden konnte, war die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates, in dem ressortübergreifend über Fragen der nationalen Sicherheit entschieden wird. Bekanntestes Beispiel eines solchen Gremiums sind die Vereinigten Staaten, wo das National Security Council eng an das Weiße Haus und damit an den Präsidenten angebunden ist. Doch mit dieser Konstruktion konnten sich die Grünen und Annalena Baerbock, die eine Schwächung ihres Auswärtigen Amtes fürchtete, nicht anfreunden.
Merz nennt Sicherheitsstrategie „inhaltlich blutleer“
Auch das Thema „Hackbacks“, also die gezielten Gegenangriffe bei Cyber-Attacken wird in der Sicherheitsstrategie ausgeklammert. Vor allem die FDP hatte sich in dieser Frage quergestellt. Die Liberalen fürchten neben einem digitalen Wettrüsten, daß derartige Gegenschläge zur Abwehr von Angriffen im Netz zu Kollateralschäden führen können, durch die unbeteiligte Dritte geschädigt werden könnten.
Die Bilanz der Experten fällt daher gemischt aus: „Mit Blick auf ihre eigene Umsetzung enthält die Strategie leider sehr wenig bis gar nichts. Was die Frage provoziert, wie sie dann umgesetzt werden soll“, sagte etwa der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Ekkehard Brose, der FAZ. „Der wichtigste Punkt ist aber für mich, daß die Strategie keine Antwort gibt auf die Frage, welche Rolle Deutschland international in dieser außergewöhnlichen Lage spielen will.“ Auch das Fehlen eines Nationalen Sicherheitsrates kritisiert Brose: „Er wäre ein Symbol gewesen, daß die Bundesregierung diese Herausforderung sieht und ganz bewußt darauf eine Antwort geben möchte. Aber dazu gab es keinen Konsens, und deshalb steht er nicht in der Strategie.“
„Ich hatte erwartet, dass die Bundesregierung den Entwurf für eine Nationale #Sicherheitsstrategie auch dem Bundestag vorstellt. Nach der Lektüre verstehe ich, warum sie es nicht getan hat: Er ist inhaltlich blutleer, strategisch irrelevant, und außenpolitisch unabgestimmt.“ ™ pic.twitter.com/uwiHjS8hoW
— Friedrich Merz (@_FriedrichMerz) June 14, 2023
Auch aus Sicht des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz hätte es einen solchen Rat gebraucht. Sein Urteil über die Sicherheitsstrategie fällt insgesamt äußerst kritisch aus: „Das, was wir jetzt hier vorliegen haben als Nationale Sicherheitsstrategie, ist inhaltlich blutleer, strategisch irrelevant, operativ folgenlos und außenpolitisch unabgestimmt.“
Die Nato lobt das Ampel-Projekt
Auch die AfD-Partei- und Fraktionschefin Alice Weidel zeigte sich enttäuscht von dem Ergebnis: „Die groß angekündigte ,Nationale Sicherheitsstrategie‘ macht viele hochtrabende Worte, doch der entscheidende strategische Grundgedanke fehlt: Die Interessen des eigenen Landes und das Wohl und die Sicherheit seiner Bürger müssen in der Außen- und Sicherheitspolitik stets an erster Stelle stehen.“
Ihr Fraktionskollege Rüdiger Lucassen machte zudem auf einen Widerspruch im Papier aufmerksam: So schreibe der Kanzler im Vorwort, es sei „wichtigste Aufgabe eines jeden Staates, einer jeden Gesellschaft, für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu sorgen“. Einige Seiten später heiße es dann, „unsere Werte zu schützen und zu stärken ist oberste Aufgabe und Bestimmung des Staates.“ Letzteres aber, so der verteidigungspolitische Sprecher der AfD im Bundestag, habe nicht diesen Stellenwert: „Vitale nationale Interessen müßten in einer Sicherheitsstrategie deshalb gegenüber normativen Ideen priorisiert werden“, so Lucassen.
Lob für die 76 Seiten kam dagegen von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Er begrüße Deutschlands klares Bekenntnis, die Ziele der Nato zu erfüllen und eine der stärksten bewaffneten Streitkräfte in Europa aufzubauen. Auch wenn es nicht allzu überraschend ist, daß er sich auf den militärischen Aspekt der Strategie konzentriert – ganz glücklich dürfte Annalena Baerbock mit dieser Schwerpunktsetzung nicht sein.