BERLIN. Die Pläne der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes stoßen weiterhin auf Kritik. Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa, äußerte sich entsetzt über das Vorhaben: „Nur auf die Inzidenz abzustellen, ist bei derartig drastischen Maßnahmen willkürlich, weil die reine Inzidenz davon abhängt, wie viel getestet wird. Dies ist manipulierbar.“
Der Bundestag würde nach der Verabschiedung des Gesetzes zudem keine Rolle mehr spielen. Es würden nur noch Bundesregierung und Bundesrat entscheiden, schrieb Gnisa auf Facebook. Mit dem Gesetz drohe Deutschland ein „nicht mehr einzufangender Dauerlockdown“.
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner sagte dem Deutschlandfunk am Montag, seine Partei stimme dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der vorliegenden Form nicht zu. Die FDP betrachte einheitliche Regeln zwar als notwendig, eine pauschal verhängte Ausgangssperre etwa sehe man jedoch prinzipiell kritisch. Wenn es um eine Einschränkung von Grundrechten gehe, müsse jedem Infektionsszenario ein konkretes Maßnahmenbündel zugeordnet werden.
Brinkhaus drängt auf Entscheidung
Als Beispiele nannte er die Auslastung der Intensivmedizin und die Positivquote der Coronatests. Ebenso kritisch äußerte sich FDP-Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann in einem Brief an seine Kollegen aus den Fraktionen von Union, SPD, Linken und Grünen laut dem Sender ntv am Montag. Der Gesetzentwurf sei „offensichtlich in großer Eile erstellt“ worden und nach Ansicht der FDP-Fraktion nicht ausgereift. Zudem enthalte der Entwurf Maßnahmen, die durch Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte bereits als rechts- oder verfassungswidrig verworfen worden seien.
Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) möchte dagegen die geplante bundeseinheitliche „Notbremse“ im Infektionsschutzgesetz möglichst schnell zur Entscheidung bringen. „Laßt uns das diese Woche abschließen. Wie dann im Einzelnen abgestimmt wird, ob man dafür oder dagegen ist, das ist eine andere Frage, aber bitte keine Verfahrensverzögerung“, forderte er am Montag im ARD-„Morgenmagazin“.
Besorgt äußerte sich der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE), Stefan Genth, zu einem schärferen Lockdown im Einzelhandel. „Die Geschäfte ab einem Inzidenzwert von über 100 wieder zu schließen, wird der Lage nicht gerecht.“ Er verwies laut dpa auf eine HDE-Umfrage unter 1.000 Unternehmen, die deutlich mache, wie kritisch die Lage bei vielen Nicht-Lebensmittelhändlern sei. Demnach sehen 45 Prozent der Befragten ihre unternehmerische Existenz im Laufe des Jahres in akuter Gefahr.
AfD gegen Änderung
Die Fraktionsvorsitzenden der AfD im Bundestag, Alice Weidel und Alexander Gauland, positionierten sich klar gegen die geplante Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes: „Die AfD-Fraktion lehnt den vorliegenden Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes ab. Dieses Gesetzesvorhaben untergräbt die föderale Architektur der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt keinen Grund, die Zuständigkeit der Bundesländer im Kampf gegen Corona zu beschneiden.
„Die geplante Verschärfung sei nicht nur ein Freibrief für weitreichende pauschale Grundrechtsbeschneidungen durch die Zentralgewalt, sondern schränke auch noch die Möglichkeit der Bürger ein, sich vor Gericht gegen unangemessene und überzogene Maßnahmen zu wehren.
Die Bundesregierung bewertet die aktuelle Situation in der „Corona-Pandemie“ als so besorgniserregend, daß sie eine deutschlandweite einheitliche „Corona-Notbremse“ einsetzen will. Um dies durchsetzen zu können, bedarf es einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Merkel will dafür den 16 Ländern ihre Hoheit über die Gesundheitspolitik entziehen und das letzte Wort auf den Bund übertragen.
Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern soll der Bund im Infektionsschutzgesetz dann mehr Kompetenzen erhalten. Wird diese Schwelle an drei Tagen in Folge überschritten, gelten ab dem übernächsten Tag schärfere Maßnahmen. Umgekehrt wird die Notbremse außer Kraft gesetzt, wenn die Inzidenz an drei Tagen unter 100 sinkt. Die Bundesregierung soll ermächtigt werden, „zur einheitlichen Festsetzung von Corona-Maßnahmen Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen“.
Zahlreiche mögliche Einschränkungen
Folgende Einschränkungen sind in der Diskussion:
Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren: Angehörige eines Haushalts dürfen sich dann nur noch mit einem weiteren Menschen treffen, maximal jedoch fünf Personen. Kinder unter 14 Jahren zählen nicht. In betroffenen Kreisen und kreisfreien Städten sollen nächtliche Ausgangssperren von 21 bis 5 Uhr gelten. Dabei sind nur begründete Ausnahmen erlaubt, dazu zählen medizinische Notfälle, berufliche Gründe oder die Versorgung von Tieren.
Kindertagesstätten und Schulen können bei hohen Infektionszahlen geschlossen werden.
Der Einzelhandel müßte in den Corona-Hotspots komplett schließen. Der Lebensmittelhandel ebenso wie Getränkemärkte, Reformhäuser, Apotheken, Drogerien und Tankstellen bleiben von den Maßnahmen ausgenommen.
Freizeitangebote bleiben dicht.
Restaurants dürfen nur Außer-Haus-Verkauf anbieten, Hotels kein Tourismu übernachten lassen.
Arbeitgeber müssen Homeoffice ermöglichen, sofern dem keine betriebsbedingten Gründe entgegenstehen. (hl)