Wenn selbst Migrationsbefürworter gegen einen Bericht zur Integration protestieren, an dem sie mitgewirkt haben, läßt das aufhorchen. Einigen Mitgliedern der von der Bundesregierung eingesetzten „Fachkommission Integrationsfähigkeit“ geht zu weit, was diese zur „Einwanderungsgesellschaft“ beschlossen hat. Das Gremium wirbt auch dafür, integrierten Geduldeten, die nicht freiwillig ausreisen und nicht abgeschoben werden, Bleibechancen zu eröffnen. Dies schaffe – so einer der vielen Kritikpunkte – „Anreize zu irregulärer Migration“.
Vor zwei Jahren hatte das Merkel-Kabinett das Gremium eingerichtet, damit es sich „mit den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit befaßt“. Nun liegt die 280seitige Abschlußarbeit vor. Schon das namensgebende Wort „Integrationsfähigkeit“ lehnen die Experten ab, weil es „eine Verengung“ darstelle und suggeriere, daß es „für Integration eine klare Grenze“ gebe. Doch das sei – sowohl was Zuwanderer als auch die Gesellschaft angehe – falsch. Tenor: Alles kann, nichts muß. Auch Integrationsministerin Annette Widmann-Mauz (CDU) will „Integration von der Migration abkoppeln“. Denn Deutsche, so sagte sie jetzt bei der Übergabe des Berichts sinngemäß, bedürften ebenfalls der Integration.
Sich mit der Steuerung oder gar Begrenzung von Zuwanderung zu beschäftigen, hat die Kommission abgelehnt, bemängelt ein Mitglied. Und zur Kriminalität sehe der Bericht Migranten vor allem als Opfer von Vorurteilen, kritisiert eine andere Beteiligte. Mit der deutlich erhöhten Gewaltbereitschaft vor allem junger ausländischer Männer setze er sich dagegen nicht auseinander. Die Kommission weigerte sich auch, die Bundesregierung aufzufordern, eine Sicherheitsüberprüfung an den Grenzen zum „Bestandteil des Einwanderungssystems“ zu machen. Stattdessen lautet Punkt 1 der „Kernbotschaften“ so: „Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland.“
Kommission räumt interne Kontroversen ein
Der Dachauer CSU-Landrat Stefan Löwl, die frühere Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John (CDU) und der Konstanzer Jura-Professor Daniel Thym wollten die Analysen und Empfehlungen nicht mittragen. Der Historiker Andreas Rödder gab im September auch eine „abweichende Stellungnahme“ ab, die den Lesern allerdings vorenthalten wird. Rödder hatte damals unter Protest die von der Berliner SPD-Abgeordneten Derya Çağlar und dem früheren Bonner Oberbürgermeister Ashok Sridharan (CDU) geleitete Kommission verlassen. Anschließend wurde der Bericht zwar nachgebessert, aber die grundsätzliche Linie hat sich nicht geändert. Die verbliebenen Gegenstimmen sind am Ende des Abschlußberichtes veröffentlicht.
Demnach ist die Begeisterung in der Medienlandschaft und der Regierung groß. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lobte den Bericht, der auch fordert, das „Deutschsein“ neu zu definieren, als „sehr gut gemacht“. Die Frankfurter Allgemeine findet ihn „lesenswert“ und ruft Kritiker zur Ordnung: Die Kommission sei mitnichten gescheitert. Unter umgekehrten Vorzeichen hätte die FAZ dem Kompendium, ob der teilweise heftigen internen Kritik, wohl das Adjektiv „umstritten“ angeheftet. Selbst die Vorsitzenden räumen im Vorwort eine „teilweise auch kontroverse Diskussion“ ein.
Für Aufsehen sorgt die Forderung der Kommission, den Begriff „Migrationshintergrund“ abzuschaffen. Die Definition dient Demographen, Statistikern und Kriminalisten seit 2005 als Ansatz, um Phänomene wie Kriminalität oder Sozialhilfe der Herkunft nach zuordnen zu können.
Eine „Wir“-Gruppe werde konstruiert
Denn über Staatsangehörigkeiten ist das aufgrund der Einbürgerungspolitik nicht mehr möglich. Ein arabischstämmiger Clan-Chef würde beispielsweise sonst als Deutscher gelten. Jeder, der mindestens ein nichtdeutsches Elternteil hat, fällt in diese Kategorie. Aktuell sind dies 21 von 83 Millionen Menschen – mehr als 25 Prozent. Diese auch international verbreitete Definition würde aber, so die Kommission, die Betroffenen „herabsetzen“.
Widmann-Mauz machte sich diese Forderung sofort zu eigen. Für „besonders wichtig“ halte sie es, diesen Begriff zu „ersetzen“. „Migrationshintergrund“, das mache der Bericht deutlich, sei „nicht mehr zeitgemäß“. Stattdessen solle man, so wie es die Kommission verlangt, künftig von „Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen“ sprechen. Dies wäre jedoch nicht nur eine bloße Umbenennung. In die Kategorie würden ausschließlich Menschen fallen, die selbst eingewandert sind oder deren Eltern beide aus dem Ausland stammen. Unklar bleibt, wie groß dieser Kreis ist.
Auch von den Begriffen „Aufnahmegesellschaft“ und „Mehrheitsgesellschaft“ müsse man sich verabschieden. Diese seien „problematisch“, weil damit eine „Wir“-Gruppe gegenüber den Migranten konstruiert werde. Außerdem würden darunter häufig nur Deutsche verstanden. In Wirklichkeit gehörten aber auch bereits hier lebende Einwanderer, zum Beispiel „Flüchtlinge“, dazu. Diese sollen nun grundsätzlich „Schutzsuchende“ heißen.
Keine Bringschuld für Migranten
Was aber bringt die Abweichler innerhalb der einst 25köpfigen Kommission auf die Palme? Stefan Löwl kritisiert, daß sich die Mehrheit der Fachkommission „von Beginn an nicht mit konkreten Fragen der Steuerung, insbesondere der Begrenzung von Zuwanderung beschäftigen“ wollte. Dabei sei das Gremium „im expliziten Zusammenhang mit der Diskussion um die ‘Obergrenze’ eingesetzt“ worden.
Zudem bemängelt der bayerische Landrat, daß im Zusammenhang mit Integration „die Benennung klarer Rechte und Pflichten aller Beteiligten“ fehle. Er mahnt, der „gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale Beitrag derjenigen Menschen, die dauerhaft nach Deutschland kommen (wollen)“, müsse betrachtet werden. „In einer Demokratie“ sei es auch wichtig, für die Migrationspolitik „eine breite Akzeptanz bei den Menschen, die bereits jetzt in Deutschland leben“, zu finden.
Auch Barbara John hätte sich gewünscht, von den Zuwanderern mehr eigene Leistungen bei der Eingliederung in die Gesellschaft zu fordern. Dagegen betrachte der Bericht, so die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, Integration als „Bringschuld“, die „dem Staat zugeschoben“ werde. „Mangelnde Aufstiegserfolge in Beruf und Gesellschaft“ seien, anders als es das Dokument beschreibe, nicht „grundsätzlich durch Diskriminierung und Rassismus verursacht“. Daher müßten diese auch nicht „durch Förderprogramme kompensiert oder wettgemacht werden“.
Kriminelle Einwanderer kommen nicht vor
Scharfe Worte findet John für das Kapitel über Kriminalität. Der rote Faden sei hier, „die eingewanderte Bevölkerung durchgängig vor pauschalen Vorurteilen zu schützen, nicht aber, die Gesellschaft vor Kriminalität zu schützen“. Sie wirft der Mehrheit der Kollegen vor, „die hohe Zahl von jungen männlichen Asylbewerbern“ mit großer Kriminalitätsbelastung werde „beiseite gewischt und bagatellisiert“. Für die meisten Menschen sei es jedoch unverzichtbar, „ein Höchstmaß an Sicherheit mit Hilfe des Staates zu schaffen“.
Die Ex-Ausländerbeauftragte Berlins beklagt auch, daß es „nicht durchsetzbar“ gewesen sei, „die Bundesregierung aufzufordern, einen Nachweis zu erbringen, ob und welche Kontrollen und Sicherheitsüberprüfungen bei Eingewanderten und Asylsuchenden vor der Einreise Bestandteil des Einwanderungssystems sind“.
John fragt rhetorisch, wie sich die Bürger auf die Aufnahmepolitik verlassen sollen können, wenn „Sicherheitsmaßnahmen nicht transparent gemacht werden“ oder solche „gar nicht oder kaum existieren“. Den abtrünnigen Mitgliedern wirft die Mehrheit der Kommission in einer darunter veröffentlichten Antwort „Verzerrung“ vor. Es handele sich vor allem bei Johns Aussagen zur Kriminalität um „verkürzte und daher potentiell irreführende Darstellungen“.
JF 5/21