Es war kaum anders zu erwarten. Das Bundesverfassungsgericht hat die vage Hoffnung einer Mehrheit der Deutschen, die außer in folgenlosen demoskopischen Erhebungen wie üblich nicht gefragt worden waren, mal wieder enttäuscht: Es hat als letztinstanzlicher Hüter der nationalstaatlichen Souveränität den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) nicht gestoppt, sondern mit Vorbehalten passieren lassen. Der kalte Putsch gegen das Grundgesetz kann unter Auflagen weitergehen.
Verfassungsrichter sind unabhängig, aber nicht losgelöst von den Zwängen, denen die politische Klasse unterliegt. Im Zielkonflikt, sich der schleichenden Aushöhlung des Grundgesetzes und der damit verbundenen eigenen Degradierung zu widersetzen, im Gegenzug aber die Verantwortung für unabsehbare internationale Verwerfungen zu übernehmen, ist der Präsident des Zweiten Senats Andreas Voßkuhle seinem vorsichtigen Motto treu geblieben: Das Gericht dürfe die Politik nicht „überfordern“. Heißt: Es könne sich nicht als einzige Institution einer Richtung entgegenstemmen, in die alle anderen laufen.
Geübt im Erpressen mit „Alternativlosigkeiten“
Genau das allerdings wäre die Mission, die die Schöpfer des Grundgesetzes dem Gericht unter dem noch frischen Eindruck totalitärer Ermächtigung als letzte Versicherung gegen einen legalistischen Putsch aufgegeben haben. Dem „Hüter der Verfassung“ fehlt in diesem Sinne die letzte Entschlossenheit. Freilich hätte selbst ein Stopschild aus Karlsruhe für den ESM das Treiben der Rettungseuropäer nicht aufhalten können.
Die Erfüllung der Auflage des Bundesverfassungsgerichts, „völkerrechtlich sicherzustellen“, daß die Gesamthaftung Deutschlands auf die im Vertragstext genannten 190 Milliarden Euro begrenzt bleibt und jede weitere Verpflichtung nur mit Billigung des Bundestages einzugehen sei, werden die politisch Verantwortlichen leichten Herzens zusichern: Wie man im Ernstfall, wenn die nächste Nachschlagsforderung kommt, hektischen Druck aufbaut und das Stimmvieh auf den Abgeordnetenbänken mit Alternativlosigkeiten erpreßt, darin weiß man sich inzwischen hinreichend geübt.
Bundesverfassungsgericht von der Euro-Retterei überholt
Völkerrechtliche Klarstellungen der Bundesregierung werden daher keinen der Akteure sonderlich erschrecken: Man setzt, wie auch bisher, auf die Eigendynamik des einmal in Gang gesetzten Mechanismus, die den politischen Machtverhältnissen folgt und nicht den Buchstaben von Gesetzes- und Vertragstexten, mit denen man die schriftgläubigen deutschen Steuerbürger um so leichter beschwichtigen und über den Löffel balbieren kann, wenn man von vornherein gar nicht vorhat, sich getreulich an das Vereinbarte zu halten.
Tatsächlich hat der Fortgang der Euro-Retterei das Bundesverfassungsgericht im Laufe des Verfahrens gleich mehrfach überholt. Schon zum Zeitpunkt der Absegnung im Schweinsgalopp durch Bundestag und Bundesrat und der Einreichung der Klagen waren die Regeln des ESM-Vertrags durch die Beschlüsse des vorangegangenen EU-Gipfels ausgehöhlt und aufgebohrt worden.
Offen auf Regeln und Verträge gepfiffen
Die „Ausgestaltung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft“ und die „Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank“, mit der Karlsruhe die Zurückweisung der Verfassungsklagen begründet, steht längst nur noch auf dem Papier. Während man sich im Karlsruher Elfenbeinturm mit großem Ernst über die Auslegung juristischer Formulierungen beugt, pfeift Europas politische Klasse offen auf Regeln und Verträge.
Für die Auftürmung unbegrenzter Haftungsrisiken zu Lasten des deutschen Steuerzahlers haben die Rettungseuropäer, ESM hin oder her, nämlich längst eine Vielzahl anderer Wege gefunden, die sie auch ungeniert nutzen: Die „Target2“-Forderungen der Bundesbank, der ungedeckte Dispokredit also, den die deutsche den Notenbanken der anderen Eurostaaten gewährt, sind kurz vor Urteilsverkündung auf schwindelerregende 751 Milliarden Euro gestiegen – eine Dreiviertelbillion.
Nicht der ESM, sondern der Euro war der Sündenfall
Vor allem aber hat das EZB-Programm zum unbegrenzten Ankauf von Pleite-Staatsanleihen schonungslos unterstrichen, daß der ESM nur eine Etappe auf dem Weg zur dauerhaften Schröpfung deutschen Volksvermögens durch umfassende Vergemeinschaftung der Staatsschulden in der Eurozone darstellt. EZB-Präsident Draghi gab das Programm in offener Verachtung des deutschen Verfassungsgerichts schon eine Woche vor dessen Urteilsverkündung bekannt.
Der unbeugsame CSU-Einzelkämpfer Peter Gauweiler hat durch seinen ebenfalls abgeschmetterten Eilantrag diesen politischen Zusammenhang klar herausgearbeitet und Karlsruhe in Erklärungsnöte gebracht. Wäre das Gericht konkreter darauf eingegangen, wäre es schwerlich um den Kern der Sache herumgekommen: Nicht erst der ESM, sondern schon die Einführung des Euro war der entscheidende Souveränitätsverlust, der die Fiskalhoheit des Parlaments und damit die deutsche Demokratie bedroht. Wer die Währungshoheit aufgibt, riskiert, daß andere mit ihm Schlitten fahren.
Auch als „ewig“ deklarierte Verträge sind reversibel
„Nur als demokratisch legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft“, hat Senatspräsident Voßkuhle in seiner Urteilsbegründung bemerkt. Nach der endlosen Kette von Rechtsbrüchen und wissentlichen Vertragsverletzungen, die der Einführung der Gemeinschaftswährung gefolgt sind und ihre Mitgliedstaaten schrittweise ihrer Souveränität als demokratische Nationalstaaten berauben, darf man das getrost so zu Ende denken: Nur ohne den Euro hat Europa eine Zukunft.
Daß über die Monstrositäten, die im Namen der Euro-Rettung hinter verschlossenen Türen ausgeheckt wurden, überhaupt intensiv öffentlich debattiert wurde, ist vielleicht der wichtigste Erfolg der abgewiesenen Klagen gegen den ESM. Immerhin: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Freiheit des Bundestags zum Neinsagen unterstrichen und klargestellt, daß auch als „ewig“ deklarierte Verträge nicht irreversibel sind. Es liegt an den Deutschen, sich ein Parlament zu wählen, das daraus die notwendigen Konsequenzen zieht und durchsteht.
JF 38/12