LONDON. Beinahe die Hälfte aller Briten – 44 Prozent – fühlt sich nach eigener Angabe zuweilen „wie ein Fremder im eigenen Land“. Ebenfalls 45 Prozent sind zudem der Überzeugung, Multikulturalismus bedrohe die nationale Identität Großbritanniens, wie eine Studie der Nichtregierungsorganisation „More in Common“ ergab.
Eine deutliche Mehrheit von 73 Prozent sieht dabei die Notwendigkeit, verschiedene ethnische Gruppen stärker in die britische Gesellschaft zu integrieren. Besonders ausgeprägt ist diese Wahrnehmung bei Wählern der Grünen und der Labour-Partei. Wähler der Konservativen oder der rechten Reform UK-Partei stimmten eher der Aussage zu, Integration sei eine Bringschuld ethnischer Minderheiten.
Das Gefühl der Entfremdung variiert dabei unter verschiedenen Gruppen. Während der Prozentsatz der Befragten, die angaben, sich besonders stark von der britischen Gesellschaft entfremdet zu fühlen unter weißen Briten am höchsten war – 14 Prozent –, wiesen Menschen mit asiatischem Migrationshintergrund insgesamt die höchste Entfremdung auf.
Schwarze Briten fühlen sich am wenigsten entfremdet
Sieben Prozent der Befragten aus dieser Gruppe gaben an, sich sehr entfremdet zu fühlen. Ganze 40 Prozent antworteten, sie fühlten sich relativ entfremdet. Damit fühlen sich insgesamt 47 Prozent der asiatischstämmigen Briten, zu denen in der Studie auch Inder und Pakistanis zählen, wie Fremde im Land. Unter weißen Briten sind es 44 Prozent.
Am wenigsten betroffen zeigen sich schwarze Briten. Nur 32 Prozent von ihnen gaben an, sich im Land fremd zu fühlen.
Neben Gründen wie Migration und Multikulturalismus zeigt die Studie auch deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Einkommensschichten. Briten mit niedrigem Einkommen berichteten, sich häufiger fremd zu fühlen und anderen Menschen weniger zu vertrauen. Unter den Befragten, deren Jahreseinkommen bei unter 10.000 Pfund lag (etwa 11.000 Euro), stimmten 63 Prozent der Aussage zu: „Ich fühle mich von der Gesellschaft um mich herum abgekoppelt.“
Junge Briten sind mißtrauischer
Besonders junge Briten berichteten, gegenüber anderen Menschen mißtrauisch zu sein. Lediglich sieben Prozent gaben an, die „meisten Menschen“ als vertrauenswürdig einzustufen, während 28 Prozent der Aussage zustimmten, man könne „den meisten Menschen gegenüber nicht vorsichtig genug sein“. Zum Vergleich: In der Altersgruppe 65 bis 74 erklärten 14 Prozent, den meisten Menschen zu vertrauen. Extrem mißtrauisch äußerten sich nur 13 Prozent.
Auch die Bereitschaft, ethnische Minderheiten als „ebenso britisch wie Weiße“ zu sehen, war in den verschiedenen Altersgruppen verschieden stark vertreten. Je älter die Befragten waren, desto eher stimmten sie der Aussage zu, Personen mit Migrationshintergrund könnten „niemals so britisch sein wie Weiße“. Unter der den 18- bis 24jährigen berichteten das nur elf Prozent – unter den 65- bis 74jährigen waren es 17 Prozent.
Studien zeigen Zusammenhang
Die Macher der Studie erklärten das allgemein hohe Mißtrauen und die weit verbreiteten Entfremdungsgefühle unter anderem mit dem Anstieg von Arbeitern im Homeoffice und der weiten Verbreitung von Social Media. „Da es immer weniger gemeinsame Räume gibt, in denen man sich persönlich treffen kann, befürchten viele, daß die Technologie nicht nur die persönliche Interaktion ersetzt, sondern auch den Anreiz nimmt, sich jenseits der eigenen Haustür zu engagieren“, heißt es im Text.
Wissenschaftliche Studien aus der Vergangenheit hatten immer wieder auf einen Zusammenhang zwischen multikulturellen Gesellschaften und dem Verlust von gesellschaftlichem Zusammenhalt verwiesen. Eine Studie im Journal of Urban Affairs aus dem Jahr 2014 ergab, daß stark multikulturell geprägte britische Nachbarschaften weniger sozialen Zusammenhalt erzeugten. Eine Studie aus dem Jahr 2013 fand ähnliche Effekte in deutschen Wohngebieten. (lb)