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40.000 Gefangene: Eine Zeltstadt in Syrien – Droht ein neuer IS?

40.000 Gefangene: Eine Zeltstadt in Syrien – Droht ein neuer IS?

40.000 Gefangene: Eine Zeltstadt in Syrien – Droht ein neuer IS?

Das Bild zeigt Kinder in al-Haul, einem Gefangenenlager für IS-Terroristen.
Das Bild zeigt Kinder in al-Haul, einem Gefangenenlager für IS-Terroristen.
Inhaftierte Kinder in al-Haul, einem Gefängnis für IS-Terroristen. Entsteht hier die nächste Dschihadisten-Generation? Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Baderkhan Ahmad
40.000 Gefangene
 

Eine Zeltstadt in Syrien – Droht ein neuer IS?

Das Gefangenencamp al-Haul im Norden Syriens: 40.000 IS-Terroristen, aber auch Kinder leben hier. Viele Staaten wollen ihre Bürger nicht zurücknehmen, währenddessen entsteht hier eine neue Generation radikaler Islamisten.
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Daß sie noch einmal mit einem blauen Auge davonkommt, hätte Laura H. nicht gedacht. Mitte Juli dieses Jahres verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) in Frankfurt am Main die heute 33jährige zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Haftvollstreckung obendrein noch ausgesetzt wurde.

Aus gutbürgerlichem Elternhaus stammend, konvertierte die Angeklagte mit 17 Jahren zum Islam. Ihrem ersten Ehemann, der Kontakte zu verschiedenen islamistischen Terrorgruppen pflegte, war sie im Anschluß erst nach Ägypten, später nach Syrien gefolgt, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen. Dort habe sie in einem Frauenbataillon „selbst hergestellte Kuchen und Desserts in ‘IS’-Märkten verkauft“, so das OLG. Nach dem Tod ihres ersten Mannes habe sie einen zweiten IS-Dschihadisten geheiratet. Erst im Herbst 2018, als sich das militärische Ende des IS-Kalifats ankündigte, hätte sie sich kurdischen Einheiten ergeben und sei in das Flüchtlingslager von al-Haul interniert worden, bis sie ein Jahr später nach Deutschland überstellt wurde.

Das OLG begründete die Milde seines Urteils nicht nur mit der Reue und dem umfassenden Geständnis der Angeklagten, sondern überraschend auch mit ihrer bereits langen Haft in al-Haul. Unter Beobachtern gilt die Haftanstalt als „Hölle auf Erden“, als „tickende Zeitbombe“, so das US-Militär, und Brutstätte einer neuen Generation von IS-Anhängern.

Die UN zählt 40.000 Bewohner aus mehr als 60 Nationen

Zwanzig Kilometer von der irakischen Grenze entfernt im syrischen Kurdistan gelegen, bildet das Flüchtlingscamp von al-Haul eine unübersichtbare Zeltstadt. Von US-Soldaten in ihrem Einsatz unterstützt, überwachen etwa dreihundert Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), die der kurdischen Rojava-Selbstverwaltung in Syrien unterstehen, die hermetisch abgeriegelte Umzäunung des Lagers. Einerseits, um sporadisch auftretende Ausbruchsversuche der Internierten zu unterbinden, andererseits auch, um Angriffe versprengter IS-Zellen von außerhalb des Lagers abzuwehren.

Die Geschichte al-Hauls als Auffangbecken für Flüchtlinge aus dem „IS-Kalifat“ begann im Februar 2019 mit der Schlacht von Baghuz, einer gut 250 Kilometer südlich al-Hauls gelegenen Kleinstadt am linken Ufer des Euphrat, die als letztes Rückzugsgebiet des Islamischen Staats in Syrien galt. Zehntausende IS-Dschihadisten hielten sich zu dieser Zeit gemeinsam mit ihren Familien und weiteren Zivilisten nahe Baghuz auf einem nur wenige Quadratkilometer großen Gebiet auf, welches von Minenfeldern und Höhlensystemen durchzogen war.

In den folgenden Kämpfen mit kurdischen und US-Soldaten starben über 1.100 Dschihadisten. Unzählige weitere, die sich ergeben hatten, sowie zahllose, zumeist mit dem IS verbundene Zivilisten konnten gefangengesetzt und nach al-Haul überführt werden. Ende 2019 zählte das Lager mehr als 70.000 Internierte. Im Sommer dieses Jahres zählten die Vereinten Nationen noch über 40.000 Bewohner – gut 80 Prozent von ihnen syrische und irakische Staatsbürger, der Rest aus mehr als 60 weiteren Nationen stammend.

Vor allem die Frauen errichten ein hartes Regiment

Viele ihrer Herkunftsländer zeigen kein bis wenig Interesse an einer Rückholung der Inhaftierten. Das weit größere Problem, konstatieren Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, stellen die im Lager arrestierten oder gar geborenen Kinder dar.

„Es ist völlig inakzeptabel, daß wir mehr als 40.000 Menschen in einer Haftanstalt haben, in der 60 Prozent von ihnen Kinder unter zwölf Jahren sind, und wir haben absolut keine Ahnung, was in dieser Einrichtung passiert“, beklagte nun die UN-Sonderberichterstatterin Fionnuala Ní Aoláin nach einer sechstägigen Visite des Lagers.

„Ohne eine Rückführung werden diese Kinder von den noch immer vorhandenen IS-Anhängern radikalisiert und mit dem Wunsch beseelt, ihre Väter zu rächen, die während der Kämpfe getötet oder gefangengenommen wurden“, mahnt die „Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden“. Speziell die Frauen von IS-Kämpfern, berichtet die PKK-nahe kurdische Nachrichtenagentur Firat News Agency, hätten im Lager von al-Haul mittlerweile ein islamistisches Regime mit eigener Religionspolizei etabliert, welche Abweichler mit dem Tod bestrafen würde.

Wer für den IS gekämpft hat, muß im Irak mit Todesstrafe rechnen

Allein im Jahr 2021 hätten die Sicherheitskräfte über 126 Morde im Lager gezählt. „Der Ruf von al-Haul als neue Hauptstadt des Islamischen Staates kommt nicht von ungefähr“, so die Agentur. Berichtet wird überdies von Frauen, die aus dem einzigen Grund im Lager Kinder gebären, um eine neue Generation von Dschihadisten heranzuziehen.

„Vor allem die Kinder werden radikalisiert, und wenn wir nicht einen Weg finden, sie zu repatriieren, wieder zu integrieren und zu entradikalisieren, bescheren wir uns fünf bis sieben Jahre später das Geschenk von Kämpfern, und das ist ein tiefgreifendes Problem“, warnte Kenneth F. McKenzie, damals Kommandeur des United States Central Command, bereits im April 2021 das US-Verteidigungsministerium. Saeed al-Jayashi, strategischer Berater der irakischen Regierung, pflichtet diesen Worten auch zwei Jahre später bei: „Das Lager al-Haul muß geschlossen werden. Es ist eine Bedrohung für die nationale Sicherheit des Irak.“

Schon aus Eigeninteresse – immerhin waren auch große Teile des Irak vom IS besetzt – bemüht sich Bagdad um eine Vorbildfunktion bei der Rückführung irakischer Häftlinge aus dem Lager. Seit 2021 hat der Irak über 5.500 der Internierten aus Syrien in ein eigens eingerichtetes Lager, genannt Jeddah-1, überführt, wo die Heimgeholten auf ihren IS-Hintergrund überprüft und im Anschluß in die Gesellschaft reintegriert werden. Überführten IS-Kämpfern droht dabei vor irakischen Gerichten die Todesstrafe. 

Im Irak sorgen die Rückkehrer nicht überall für helle Freude

Doch auch die Freigelassenen werden von vielen Irakis nicht willkommen geheißen. „Wie kann ich zulassen, daß der Sohn eines IS-Mitglieds zurückkommt, wenn sein Nachbar auf der anderen Straßenseite immer noch keine Entschädigung für die Zerstörung seines Hauses durch den IS erhalten hat?“, erklärte ein einflußreiches lokales Oberhaupt während eines Anfang Juni von der UNO organisierten Treffens in Bagdad die Abweisung ehemaliger Inhaftierter durch seine Gemeinde.

Allein die Kosten der Reintegration schätzt die Uno pro Jahr auf rund 50 Millionen Euro. Doch auch wer in Zukunft für den Weiterbetrieb al-Hauls aufkommen soll, ist noch völlig unklar. Schleppend verläuft zudem die Rücknahme der Inhaftierten in ihre Heimatländer. Zwar haben Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan gemeinsam bereits über 1.400 Menschen ausgeflogen, und mehr als 240 Personen sind zurück im Kosovo, darunter größtenteils Kinder. Frankreich holte bis Anfang Juli 223 seiner Staatsbürger heim, und Großbritannien von seinen 900 Dschihadisten elf. Nach Deutschland kamen 76 Kinder und 26 Frauen zurück. Die in Gefangenschaft im Irak und Syrien verbliebenen deutschen Staatsbürger liegen laut Verfassungsschutz „im oberen zweistelligen Bereich“.

JF 32/23 

Inhaftierte Kinder in al-Haul, einem Gefängnis für IS-Terroristen. Entsteht hier die nächste Dschihadisten-Generation? Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Baderkhan Ahmad
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