Der neue Nahostkrieg setzt Frankreich unter Hochspannung. In den arabisch-islamisch dominierten Vorstädten, den Banlieues, brodelt es. Viele der rund eine halbe Million französischen Juden leben in Angst. Seit den Hamas-Angriffen auf Israel und dem Beginn des Krieges vor gut fünf Wochen hat die Polizei schon weit mehr als tausend antisemitische Straftaten und Übergriffe registriert, doppelt so viele wie im ganzen Vorjahr.
An einer Großdemonstration gegen Judenhaß nahmen am vergangenen Sonntag in Paris mehr als 100.000 Menschen teil. Präsident Emmanuel Macron hatte zuvor vor einem „Wiederaufleben eines ungezügelten Antisemitismus“ gewarnt. Die Großdemonstration führte indes die Spaltung des Landes eindrücklich vor Augen. Der Linksaußen-Politiker Jean-Luc Mélenchon und seine Partei La France Insoumise (LFI), die sich stark auf muslimische Wähler stützt, boykottierten die Demonstration.
Marine Le Pens Ziel ist es, die Konservativen zu erreichen
Für große Irritationen sorgte auch, daß Frankreichs Präsident Macron zwar zur Teilnahme aufrief, selbst aber nicht teilnahm. Die bürgerlichen Republikaner und der Verband der französischen Juden CRIF griffen Macrons Fortbleiben als „historischen Fehler“ an.
Unterdessen schaffte es Marine Le Pen, die Führungsfigur der Rechtspartei Rassemblement National (RN), an diesem Wochenende fast zur Hauptperson der Demonstration zu werden.
Daß Le Pen und weitere RN-Politiker sich klar auf die Seite Israels stellten, demonstrativ auf der Demonstration mitliefen und ihre Anhänger ebenfalls zum Kommen aufriefen, sorgte bei Linken und Bürgerlichen für erregte Diskussionen. Marine Le Pen erklärte dazu: „Unsere jüdischen Mitbürger sind seit langem mit einer Ideologie konfrontiert, die ich immer bekämpft habe: den Islamismus.“
Fast 300 Todesopfer islamistischer Attentate
Frankreich hat in der Tat traumatische Erfahrungen mit dem mörderischen Islamismus gemacht. In den vergangenen zehn Jahren gab es fast 300 Todesopfer islamistischer Attentate zu betrauern: das Massaker im Bataclan und das Gemetzel in der Redaktion von Charlie Hebdo, der Lkw-Anschlag in Nizza, enthauptete Priester, tödliche Angriffe auf Juden und andere erstochene und erschossene Bürger, sogar Kleinkinder.
Eine Woche nach den Hamas-Angriffen auf Israel erstach im nordfranzösischen Arras ein junger radikaler Moslem mit tschetschenischen Wurzeln einen Lehrer. Jüdische Einrichtungen stehen unter massivem Schutz. Mehr als 10.000 Soldaten und Polizisten sind abgeordnet, um die rund 900 jüdischen Schulen, Synagogen und Institutionen zu bewachen. Innenminister Darmanin lobt, daß die Juden in Frankreich trotz allem sicherer als in Israel seien.
„Es gibt Themen, da darf es überhaupt keine Zweideutigkeit geben“
Marine Le Pen betreibt derweil eine geschickte Strategie, zunehmend Wähler der konservativen Mitte zu erreichen. In der jüngsten Umfrage für Le Point stand sie bei fast 30 Prozent für die erste Runde der Präsidentschaftswahlen – gut sechs Punkte mehr als 2022. Die 55jährige Tochter von Jean-Marie Le Pen distanzierte sich zudem klar von den antisemitischen Untertönen ihres Vaters. Der hatte einst große Empörung ausgelöst, weil er den Holocaust herunterspielte und die Gaskammern in KZs als „Detail“ der Weltgeschichte abtat.
Marine Le Pen und ihr Parteivorsitzender Jordan Bardella wollen den schädlichen Ruch des Antisemitismus unbedingt loswerden. „Es gibt Themen, da darf es überhaupt keine Zweideutigkeit geben“, sagte sie, auf die Vergangenheit des Front National und die Äußerungen ihres Vaters angesprochen. Der Kurswechsel des RN ist deutlich. Dazu beigetragen hat Le Pens früherer Lebensgefährte Louis Aliot, RN-Bürgermeister von Perpignan, der an seine jüdische Großmutter erinnerte.
Frankreichs Linke schielt lieber auf die Wähler in den Banlieues
Le Pen und Bardella präsentieren ihre Partei nun als „Schutzschild der jüdischen Mitbürger“ gegen die bedrohliche Stimmung in den islamischen und linken Milieus, den „Islamo-Gauchisme“. Vor fünf Jahren wurde Le Pen noch bei einer Gedenkveranstaltung für eine ermordete jüdische Rentnerin ausgebuht und abgedrängt, jetzt passiert das nicht mehr.
Auch der Rechtspolitiker und Islamgegner Éric Zemmour, selbst aus einer jüdischen Familie stammend, nahm an den Demonstrationen gegen Antisemitismus teil. Zemmour erklärt Israels Kampf zum Teil des Zivilisationskampfs gegen den Islamismus. Der prominente linksliberale Geschäftsmann und Politikberater Alain Minc sieht nun mit Zähneknirschen, daß Le Pens Strategie der „Anbiederung“, wie er es nennt, bei einigen konservativen Juden aufgehe. Marine Le Pen rechnet sich zunehmende Chancen bei der nächsten Präsidentschaftswahl aus. Minc meint: „Wenn es ihr gelingt, den Ruch des Antisemitismus loszuwerden, wird sie 2027 auch für die klassisch-konservativen Franzosen wählbar.“
Am anderen Ende des politischen Spektrums manövrierte sich dagegen Jean-Luc Mélenchon ins Abseits. Das Linksbündnis „Nupes“ aus LFI, Kommunisten, Sozialisten und Grünen ist so gut wie tot. Mélenchon schielt auf die Wähler in der Banlieue, auf die rund sechs Millionen Muslime in Frankreich. Eine neue Umfrage, die das Journal du Dimanche am Tag der Pariser Großdemonstration veröffentlichte, zeigt aber, wie sehr er sich selbst beschädigt hat. Bei der Präsidentschaftswahl im vorigen Jahr verfehlte er nur knapp den Einzug in die Stichwahl, jetzt ist Mélenchon weit abgerutscht. Der 72jährige wird zunehmend als Extremist angesehen und auch auf der Linken mehrheitlich abgelehnt.