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Ukraine-Krieg: Ein Englischlehrer in Cherson

Ukraine-Krieg: Ein Englischlehrer in Cherson

Ukraine-Krieg: Ein Englischlehrer in Cherson

Zivilisten laufen an einem russischen Schützenpanzer vorbei Viele Ukrainer leben mittlerweile unter russischer Besatzung Foto: picture alliance / AA | Stringer
Zivilisten laufen an einem russischen Schützenpanzer vorbei Viele Ukrainer leben mittlerweile unter russischer Besatzung Foto: picture alliance / AA | Stringer
Zivilisten laufen an einem russischen Schützenpanzer vorbei Viele Ukrainer leben mittlerweile unter russischer Besatzung Foto: picture alliance / AA | Stringer
Ukraine-Krieg
 

Ein Englischlehrer in Cherson

Seit Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine wurde um Cherson gekämpft. Nach tagelangen Gefechten fiel die südukrainische Stadt schließlich an die Angreifer. Seitdem kommt die Stadt am Dnjepr nicht zur Ruhe. Ein Lehrer berichtet vom Protest gegen die Besatzung.
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Schon kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde erbittert um die Stadt Cherson gekämpft. sieben Tage nach dem Einmarsch fiel die Metropole nach heftigen Gefechten schließlich an die Angreifer. Seitdem findet Cherson keine Ruhe. Die knapp 290.000 Einwohner Chersons wehren sich gegen die russischen Besatzer. Es kommt zu Demonstrationen, Verhaftungen und Entführungen. Unterdessen werden die alltäglichsten Güter knapp. Der Englischlehrer Serge hat fast sein gesamtes Leben in der Stadt am Dnjepr verbracht.

Im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT schildert er die chaotische Lage vor Ort und verrät, wieso er sich nicht mehr vor den russischen Soldaten fürchtet:

„Ich bin 53 Jahre alt, nicht verheiratet und habe keine Kinder. Vor dem Krieg war ich Englischlehrer und Übersetzer. Als Katholik habe ich in der Sonntagsschule meiner Gemeinde unterrichtet. Ich wurde in Cherson geboren und habe hier den größten Teil meines Lebens verbracht. Früher habe ich mich für schöne Literatur begeistert. Mit meinen Schülern habe ich sogar so etwas wie einen Buchclub gegründet. Die Jugendlichen waren für gewöhnlich zwischen 14 und 16 Jahre alt. Gemeinsam haben wir uns alle möglichen Geschichten ausgedacht. Manche Schüler haben sogar welche aufgeschrieben und veröffentlicht.

„In den ersten Stunden haben die Russen alles geplündert“

Die Russen haben Cherson in der Nacht zum zweiten März angegriffen. Es kam zu heftigen Gefechten und Artilleriebeschuß. Dabei sind viele Menschen gestorben. Auch einige Häuser wurden zerstört. Anscheinend wurden die Kämpfe äußerst verbissen geführt, denn am nächsten Morgen versammelte sich ein Haufen russischer Soldaten vor den Kirchen der Stadt, um zu beten. Für mich war das ein merkwürdiger Anblick, weil Russen normalerweise nicht besonders gläubig sind.

Die ersten paar Stunden nach der Besetzung der Stadt durch die Russen haben die Soldaten erst einmal nichts anderes gemacht, als zu plündern. Sie haben Geschäfte, Einkaufscenter und alle mehr oder weniger wohlhabend aussehenden Anwesen leergeräumt. Darüber hinaus haben die Russen meines Wissens nach nicht weiter versucht, mit den Einheimischen in Kontakt zu treten. Dabei sprechen über 95 Prozent der Einwohner Chersons ebenfalls Russisch – eine Sprachbarriere existiert also nicht. Anfreunden wollten sie sich bisher jedenfalls nicht mit uns. Vielmehr versuchen die Russen auf ziemlich seltsame Weise, sich anzubiedern.

Rußland inszeniere Hilfsaktionen

Die Stadt ist nach wie vor von russischen Truppen umstellt. Sowohl bei Lebensmitteln, als auch bei Benzin, Medikamenten und Hygieneprodukten herrscht Mangel. Cherson steht an der Schwelle zur humanitären Katastrophe. Nachschub kommt nicht mehr in die Stadt, weil die Russen alle Zufahrtswege versperren. Stattdessen haben sie ihren eigenen Hilfskonvoi inszeniert – ein totales Fiasko.

Die Russen haben Journalisten nach Cherson gebracht, damit sie filmen, wie Soldaten notleidenden Ukrainern helfen. Aber niemand kam, um sich etwas abzuholen. Also haben sie die gewünschten Fernsehbilder kurzerhand einfach selbst nachgestellt. Auf den Aufnahmen war nicht einmal Cherson zu sehen. Sie haben im Fernsehprogramm einfach Szenen aus einer anderen Stadt gezeigt. Es war ein Desaster. Und selbst jetzt noch halten die Russen die Zufahrtwege für Hilfslieferungen versperrt. Sie warten einfach auf eine humanitäre Katastrophe, um dasselbe Spiel zu wiederholen. Das wirkt alles wie eine schlechte Neuauflage von „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt.

„Wenn man an die Kinder denkt, verschwindet die Angst“

Obwohl Cherson eine russischsprachige Stadt ist, stellt sich die überwältigende Mehrheit der Einwohner gegen den russischen Einmarsch. Es kommt derzeit andauernd zu Protesten gegen die Besatzung. Um die Menschen einzuschüchtern geben die Soldaten Schüsse ab – allerdings vorerst nur in die Luft. Aber es hat auch schon Festnahmen und Entführungen gegeben. Auch ich habe an den Demonstrationen teilgenommen. Viele meiner Freunde ebenfalls.

Schon kurz nach der Einnahme Cherson durch russische Truppen demonstrierten die Bewohner gegen die Besatzung
Seit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Stadt demonstrieren die Menschen gegen die Besatzung Foto: Privat

Natürlich hatten wir Angst davor, was alles passieren könnte. Aber wenn Kinder durch russische Raketen und Mörsergranaten getötet werden, hört man damit auf, an seine eigene Sicherheit zu denken. Ob uns auf der Straße einfache Rekruten oder die speziell dafür ausgebildete Militärpolizei gegenüberstand, kann ich im Nachhinein nicht sagen. Ich kenne mich mit Uniformen nicht sonderlich gut aus.“

Videos wie das folgende sollen zeigen, wie die Menschen in Cherson gegen die russische Besatzung auf die Straße gehen.

Doch die Lage ist nicht nur für die normalen Bürger, sondern auch für die Verwaltung der eingenommenen Ortschaften prekär. Die Frage stellt sich, ob man mit den russischen Streitkräften zusammenarbeiten soll oder nicht. Aus mehreren Städten werden inzwischen Berichte von erschossenen Verwaltungsbeamten und Ortsvorstehern laut. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage läßt sich derzeit nicht überprüfen.

Für Cherson meint Serge: „Der Bürgermeister unserer Stadt, Igor Kolykhayev, ist zwar ethnischer Russe, aber er brennt für die Ukraine und Cherson. Für uns ist er der Mann der Stunde. Er verweigert jegliche Zusammenarbeit mit den russischen Streitkräften und versucht dabei trotzdem, ausgleichend zwischen die Armee und die Stadtbevölkerung zu treten.

Der Krieg hat die Menschen in Cherson geeint

Das Leben hier ist jetzt sehr hart: Lebensnotwendige Güter werden langsam knapp. Der öffentliche Nahverkehr hat seinen Betrieb eingestellt. Es gibt kein Heizöl mehr. Die Leute fahren nur noch im absoluten Notfall mit dem Auto. Sämtliche Schulen sind geschlossen. Es funktioniert eigentlich nichts mehr in der Stadt, bis auf einige Lebensmittelgeschäfte. Die Russen haben eine Ausgangssperre verhängt.

Vor dem Krieg hat es in Cherson viele Rußlandbegeistere und auch einige Putin-Anhänger gegeben – auch in meinem eigenen Freundeskreis. Aber seit dem russischen Einmarsch hat sich das alles von Grund auf geändert. Jetzt sind fast alle in Cherson europäisch eingestellt und für die Ukraine. Hin und wieder hört man zwar noch Gerüchte über Kollaborateure. Aber das ist mehr die Ausnahme als die Regel. Meinem Dafürhalten nach gibt es in meinem engeren Umfeld jedenfalls keinen einzigen Befürworter der Invasion mehr.“ (fw)

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Die JUNGE FREIHEIT bleibt mit dem Lehrer in Kontakt und wird Sie auch weiterhin über die Lage in Cherson informieren.

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