Das ungarische Kinderbuch „Meseország mindenkié“ (Das Märchenland gehört allen) gibt es künftig nur noch mit „Beipackzettel“. Der soll das Volk nach dem Willen von Ministerpräsident Viktor Orbán vor den Risiken und Nebenwirkungen abstruser Gender-Theorien schützen. Der Verleger des Märchenbuchs über das seit Monaten in Ungarn debattiert wird, muß fortan darauf hinweisen, daß dieses im Widerspruch zu traditionellen Geschlechterrollen steht. Damit setzt der Fidesz-Chef ein Zeichen im Sinne seiner „illiberalen Demokratie“.
Der Lesbenverband Labrisz hatte im September die Sammlung von 17 Märchen veröffentlicht. Die Aufmachung erinnert zunächst an jene der klassischen ungarischen Volksmärchen. Doch die Helden der neuen Fantasiewelt sind weiblich, schwarz, homosexuell und behindert. Ihre Gegner sind nicht länger nur Drachen oder Bösewichte, sondern nun auch vermeintlich antiquierte Gesellschaftsbilder voller Heteronormativität.
„Negerlein“ werden zu Messerwerfern
Auch in Deutschland scheut man es nicht, Geschichten nachträglich „anzupassen“ – allerdings unter entgegengesetzten Vorzeichen. So etwa wurde Otfried Preußlers Kinderbuch-Klassiker „Die kleine Hexe“ 2013 kurzerhand überarbeitet. Dabei wurden jedoch keine schwarzen Menschen eingefügt, sondern „Negerlein“ herausgestrichen, genauer gesagt zu „Messerwerfern“ umgeschrieben. Das vermeintliche Unwort passe einfach nicht mehr in diese Zeit, hatte der Thienemann-Verlag bekräftigt.
Doch im Gegensatz zu Ungarn, führen solche Überarbeitungen hierzulande nicht zu einem Ausruf des Entsetzens, sondern höchstens zu einem müden Quiecken der Opposition gegen den linksliberalen Zeitgeist. Anders als Orbán würden deutsche Christdemokraten ein „diverses“ Kinderbuch wohl eher beklatschen und staatlich fördern als Bedenken über mögliche Auswirkungen solcher Theorien in den Raum zu stellen.
Aus Schneewittchen wird Laubbraun
Besonders ermüdend ist der Mangel an Innovation der Labrisz-Geschichten. Diese stützen sich auf altbekannte Erzählungen und ersetzen lediglich einzelne Elemente. Das wird besonders an der Schneewittchen-Adaption des Bandes deutlich. Das zarte, blasse Mädchen mit den blutroten Lippen, das der Geschichte seinen Namen gab, muß vermeintlich progressiveren Vorstellungen weichen. So blickt die Mutter wie bei der Ursprungsgeschichte aus dem Fenster und wünscht sich sehnlichst ein Kind. Doch in diesem Fall soll es schwarzes Haar und goldbraune Haut haben – geboren ist „Avarbarna“ (Laubbraun).
Aber nicht nur das Erscheinungsbild der Hauptfigur wurde in politisch korrekter Manier „korrigiert“, auch der Gegenspieler paßte anscheinend nicht mehr ganz ins Bild. Bösartige Stiefmütter – das verträgt sich so gar nicht mit der Vorstellung von „Women‘s Empowerment“. Folglich muß nun ein alter weißer Mann herhalten. Avarbarnas Vater ist jetzt der Schuft, der seine Tochter letztlich sogar umbringen will, weil sich das burschikose Mädchen seiner Meinung nach zu wenig „ladylike“ für eine Prinzessin verhält.
Eine andere Geschichte beleuchtet das Leben eines sensiblen, homosexuellen Zigeuner-Jungen. Das soll laut dem Lesbenverband aufzeigen, daß auch Männer weinen dürfen und verletzlich sind. Eine weitere Erzählung handelt von einem Reh, das sich im falschen Körper empfindet und lieber ein Rehbock sein möchte. Das Überthema bleibt stets dasselbe: Der Kampf der Minderheiten um Anerkennung.
Orbán kämpft gegen Liberalismus
Viktor Orbán hatte im Oktober im Gespräch mit dem Radiosender Kossuth bekräftigt, tolerant und geduldig gegenüber „Provokationen“ der Homo-Lobby zu sein. Aber es gebe für ihn eine rote Linie, bei der der Spaß aufhöre: „Laßt die Kinder in Ruhe!“
Mit der Festlegung von Vater und Mutter als Mann und Frau hatte die ungarische Regierung im Dezember bereits eine traditionelle Deutung von Elternschaft in der Verfassung verankert und „Regenbogen“-Familienmodelle gesetzlich ausgeschlossen. Die Vorgabe für einen Warnhinweis auf dem Märchenbuch unterstreicht dieses Bekenntnis gegen den Liberalismus, den Orbán auch auf gesellschaftspolitischer Ebene bezwingen möchte.