Kaum hatte das Moskauer Publikum zu applaudieren begonnen, schrillten in Washington die Alarmglocken. Anlaß dafür gaben nicht nur die Abgeordneten, die sich am 1. März im russischen Unterhaus versammelt hatten, um Wladimir Putins jährliche Rede zur Lage der Nation zu verfolgen. „Wir haben mit der Entwicklung einer neuen Generation von Raketen begonnen“, erklärte der russische Präsident unter frenetischem Beifall. „Wir nennen sie Sarmat. Das ist eine tieffliegende Rakete, die einen nuklearen Sprengkörper trägt; mit beinahe unbegrenzter Reichweite, unvorhersagbarer Flugbahn sowie der Fähigkeit, an Abfangeinrichtungen vorbeizusteuern. Gegen sämtliche existierende und geplante Raketenabwehr ist sie unbesiegbar.“
Was Washingtons Besorgnis tatsächlich begründete, war das im Anschluß gezeigte Video: Ein virtueller Flug der Sarmat quer über den Globus sowie der Einschlag ihrer Sprengköpfe auf einer Landkarte, welche frappierende Ähnlichkeit mit der US-Halbinsel Florida besitzt. Noch einmal möchte Putin es wissen: Die Rede zur Lage der Nation kam ihm dabei alles andere als ungelegen. Denn wenn an diesem Sonntag gut 109 Millionen russische Bürger zur Urne gerufen werden, um über ihren neuen Präsidenten abzustimmen, wird auch Putins Name – in wechselnden Rollen seit Anfang 2000 Staatsoberhaupt der Föderation – eher unscheinbar auf der Liste der Kandidaten geführt. Seine Wiederwahl scheint dabei, zumindest den aktuellen Umfragewerten entnommen, nur noch reine Formsache zu sein.
Putin darf mit deutlichem Sieg rechnen
Daran dürften auch international für Aufruhr sorgende Skandale wie die versuchte Ermordung des Doppelagenten Sergei Skripal kaum etwas ändern. Der 66jährige Spion, der in den 1990ern zum britischen MI6 übergelaufen ist, war am 4. März zusammen mit seiner Tochter bewußtlos in der englischen Stadt Salisbury aufgefunden worden. Bei beiden wurde ein extrem starkes, zu Sowjetzeiten fabriziertes Nervengift im Körper diagnostiziert. Seitdem verlangt London von Moskau die restlose Aufklärung sowohl dieses Vorfalls als auch des Verbleibs der restlichen Vorräte des Giftes. Der Kreml allerdings dementiert eine Verwicklung in den Anschlag auf Skripal und wirft London stattdessen Einmischung in den russischen Wahlkampf vor.
Mit mangelndem Erfolg, sollte Moskau recht behalten. Allein die jüngsten Erhebungen des noch zu Sowjetzeiten etablierten staatlichen „Allrussischen Meinungsforschungszentrums“ (VZIOM) ergaben: Eine weitere Amtszeit ihres Präsidenten befürworten derzeit über 71 Prozent der Befragten. Pawel Grudinin, der Kandidat der Kommunistischen Partei, käme als Zweitplazierter gerade einmal auf gut sieben Prozent, der Nationalist Wladimir Schirinowski von den Liberaldemokraten könnte mit sechs Prozent den dritten Platz erringen. Alle anderen Bewerber, insbesondere die betont westlich agierende TV-Moderatorin Xenija Sobtschak, dürften dem VZIOM nach kaum über die Ein-Prozent-Marke springen.
Putin behält es sich vor, die Inhalte des Wahlkampfes allein zu setzen: Immerhin wurde selbst das Datum der Wahl nicht grundlos um eine Woche verschoben – nämlich punktgenau auf den vierten Jahrestag der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Truppen der Russischen Föderation. Ein Ereignis, das in Rußland begeistert aufgenommen wurde und Putins Popularität förmlich durch die Decke schießen ließ. Zudem preist Putin die russischen Erfolge auf seiten Baschar al-Assads im syrischen Bürgerkrieg und das Stirnbieten des Kremls gegenüber dem Pentagon.
Nawalny durfte nicht kandidieren
„Kein anderes Land“ habe jemals etwas wie die Sarmat-Rakete entwickeln können, rührte Putin zu seiner Rede an die Nation unüberhörbar die eigene Wahlkampftrommel. Sätze, denen selbst die Opposition Respekt zollt. „Rußland braucht das atomare Gleichgewicht mit den USA und muß es bewahren und ausbauen“, pflichtete Alexej Nawalny vergangene Woche in einem Interview bei. „Vielleicht ist das altmodisch, aber die Gefahr gegenseitiger Zerstörung ist eine Garantie der Sicherheit weltweit.“
Der 41jährige Rechtsanwalt und Onlineaktivist hatte bereits im Dezember 2016, gut ein Jahr vor Wladimir Putin, seinen Hut ins Rennen um die Präsidentschaft geworfen und galt lange als dessen gefährlichster Herausforderer. Mit seinen Forderungen nach massiver Bekämpfung der Korruption innerhalb der Regierung sowie einem sozialeren Wirtschaftssystem gerade für die ärmeren, unter den westlichen Sanktionen leidenden Schichten der russischen Bevölkerung – seit 2014 hatte der Rubel um gut die Hälfte an Wert im Vergleich zum Euro verloren, die Reallöhne waren allein 2016 um zehn Prozent gesunken –, gelang es dem charismatischen Blogger binnen weniger Monate, fast eine halbe Million Unterstützungsunterschriften zu sammeln sowie Demonstrationen gegen die Regierung mit über einhunderttausend Teilnehmern zu organisieren.
Im Dezember vergangenen Jahres allerdings schloß die russische Wahlkommission Nawalny vom Urnengang aus: Eine Vorstrafe, so die Erklärung, mache es ihm unmöglich, bis 2028 als Präsidentschaftskandidat zugelassen zu werden. Ein herber Rückschlag für Nawalnys Graswurzelbewegung, die seitdem mit Forderungen nach allgemeinem Wahlboykott von sich reden macht. Entgegen der VZIOM-Vorhersage von einer Beteiligung über 70 Prozent verweisen Studien des Moskauer Lewada-Zentrums darauf, daß in deren Erhebungen lediglich 24 Prozent der Befragten bestätigt hatten, im März „ganz sicher“ zur Wahl zu gehen, zwanzig Prozent jedoch ihre Beteiligung so gut wie ausschließen.
Seinen Präsidenten kann man sich in Rußland nicht aussuchen
Die Wahlbeteiligung könnte somit als Prüfstein der Legitimation für Putins vorerst letzte Präsidentschaft dienen. Anschließend erneut antreten dürfte er nach derzeitiger russischer Verfassung nicht. Ein Thronfolger wie einst Dmitri Medwedew, der Putin von 2008 bis 2012 im Amt des Präsidenten vertrat, wurde von Putin allerdings noch nicht gesetzt. Für Sobtschak ist auch dies nur noch eine Frage der Zeit. „In Rußland haben wir einen Witz“, flachste sie auf CNN: „Daß man sich weder seine Eltern aussuchen kann, noch sein Geschlecht, noch seinen Präsidenten.“
JF 12/18