Die Schlacht um Ramadi hat begonnen. Seit Tagen schon hatten sich die verstreuten Bataillone der irakischen Armee, die sich nach dem Fall der rund hundert Kilometer westlich von Bagdad liegenden Stadt Anfang vergangener Woche fluchtartig in Richtung Falludscha zurückziehen mußten, neu zu formieren versucht. Dann traf endlich ihre ersehnte Verstärkung ein.
Die als Beute der Islamisten in Ramadi zurückgelassenen Panzer, Artilleriegeschütze und Geländefahrzeuge wurden von der Regierung ersetzt. Mit den neuen Einheiten marschierte ein Freiwilligenheer von gut 3.000 Milizionären an den vom Islamischen Staat (IS) verminten Stadtgrenzen auf.
Gleich in mehrfacher Hinsicht ist die Eroberung Ramadis durch den IS ein blutiges Fanal; nicht nur für den brüchigen irakischen Staat, sondern ebenso für dessen Verbündete in der Anti-Terror-Allianz dies- und jenseits des Atlantiks. Über 500 Menschen starben in dem kaum drei Tage andauernden Gefecht um die Viertelmillionenstadt am Euphrat, das mit einer Niederlage Bagdads endete. Rund 25.000 Flüchtlinge begaben sich bereits während der Kampfhandlungen auf den gefahrvollen Weg gen Osten. Der große Rest der Einwohner sieht sich seitdem der Willkür der Radikalislamisten ausgeliefert.
Ungebrochener Eroberungswillen des IS
Neben Jarmuk und Tadmur gilt Ramadi als eine der drei Speerspitzen der diesjährigen Frühlingsoffensive des Islamischen Staats. Daß diese nur eine Frage der Zeit war, stand außer Frage. Doch das Ausmaß der Vorstöße des IS überrascht selbst Analytiker des Konflikts: So hatte der IS seit August 2014 bereits über ein Viertel seines Territoriums im Irak verloren.
Die fortwährenden Angriffe der Luftstreitkräfte der Koalition schienen endlich die erhoffte Wirkung zu zeigen. In gut 3.600 Einzeleinsätzen, die den US-Haushalt umgerechnet bislang etwa zwei Milliarden Euro gekostet haben, wurden bis zum 8. Mai beinahe 6.300 Ziele im Irak und in Syrien zerstört.
Doch der Eroberungswille des Islamischen Staats scheint dadurch nicht gebrochen. Mit der Einnahme des palästinensischen Flüchtlingscamps von Jarmuk am 1. April gelang es den Islamisten erstmalig, sich dauerhaft in die Quartiere der syrischen Hauptstadt Damaskus einzunisten. Die Siedlung Tadmur wiederum, welche an die Ruinen der antiken Karawanenstadt Palmyra angrenzt und am 20. Mai in die Hände der Aufständischen fiel, droht zum neuerlichen Zivilisationsbruch zu werden.
Schon mehrfach hatte der Islamische Staat nahöstliche Kulturdenkmäler schleifen lassen; die unbedingte Schutzpflicht diesen zweitausend Jahre alten Relikten gegenüber erschwert überdies eine Reokkupation des Ortes durch die Allianz sowie gemäßigte Rebellen.
Offensive von langer Hand geplant
In Syrien kann sich der Islamische Staat seitdem rühmen, mehr als die Hälfte des Landes zu kontrollieren. Doch nicht nur dies: Mit Tadmur fielen ihr auch die strategisch bedeutsamen Erdgasfelder von Arak und al-Hail in die Hände, welche für die Belieferung der noch immer von Assad sowie der Freien Syrischen Armee kontrollierten Ballungsräume im Westen des Landes mit Energie lebensnotwendig sind.
Wie Tadmur und Jarmuk, so war auch die Eroberung Ramadis bereits von langer Hand geplant. Wochenlang, so berichtet der Islamische Staat in der Maiausgabe seines Propagandamagazins Dabiq, hätten unbemannte Aufklärungsdrohnen die Gegend um die Provinzhauptstadt des irakischen Gouvernements Al-Anbar erkundet und dabei Ziele für kommende Angriffe identifiziert. Am Morgen des 10. April erfolgte der erste Part der Offensive: Ein mit sieben Tonnen Sprengstoff beladener Lastwagen raste frontal in die Kommandozentrale des irakischen vierten Regiments und riß Dutzende Soldaten in den Tod.
Angst vor schiitischen Vergeltungsmaßnahmen
Viele sunnitische Einwohner Ramadis haben Angst. Nicht nur wegen der Eroberung ihrer Stadt durch den IS, sondern auch wegen der bevorstehenden Befreiung durch die Bagdader Milizionäre. Denn jene gehören den al-Hashd al-Shaabi an, einer rund 60.000 Mann starken paramilitärischen Einheit, die sich aus Schiiten rekrutiert und als verlängerter Arm des Iran im Zweistromland gilt.
Bereits in Tikrit, dem Geburtsort Saddam Husseins, hinterließen diese schiitischen Truppen eine Schneise der Verwüstung aus Rache für vom IS begangene Massaker: Hunderte Geschäfte und Wohnhäuser wurden niedergebrannt, unzählige sunnitische Einwohner, die der Kollaboration verdächtigt wurden, verschleppt und ermordet.
Schiiten sind es auch, denen derzeit die Verantwortung für den Fall Ramadis zugeschoben wird: Die schiitisch dominierte irakische Regierung habe nämlich bewußt versäumt, Ramadi mit ausreichend schweren Waffen zu beliefern. In Bagdader Kreisen regiere Angst, beklagen ranghohe sunnitische Politiker; jene Furcht nämlich, die Sunniten aus Al-Anbar stünden der schiitischen Regierung nicht loyal gegenüber und könnten mit ihrer teuren Bewaffnung zum Feind überlaufen.
Eine Befürchtung, die sich selbst erfüllt: Denn je schlechter das schiitische Bagdad die ihm unterstehenden sunnitischen Stämme ausrüstet, desto eher kapitulieren letztere vor dem IS und schwören nun diesem anstelle Bagdads die Treue.
Daß dererlei Sektierertum ein weiteres Pulverfaß im ohnehin krisengeplagten Nahen Osten entzünden könnte, steht in Washington ganz oben auf der Bedrohungsliste. Schon jetzt debattiert der Kongreß über die erneute Entsendung von 10.000 Soldaten zur Bekämpfung des Islamischen Staats am Boden. Denn der Konflikt, so fern er für die USA noch scheint, könnte bald schon nach Übersee schwappen.
„Der Islamische Staat macht kein Geheimnis daraus, Amerika auf seinem Heimatboden angreifen zu wollen“, droht der Dabiq unverhohlen. „Wir wollen etwas Großes machen, etwas wirklich Episches.“ Eine aus Pakistan in die Vereinigten Staaten geschmuggelte Atombombe sei den Dschihadisten nach Prüfung ihrer Kriegskasse gar nicht mehr undenkbar.
JF 23/15