Mit Fukushima im Rücken katapultieren sich die Grünen im CDU-Stammland Baden-Württemberg an die Macht und stellen künftig sogar den Ministerpräsidenten. Eine mächtige Zäsur. Der Erfolg der Grünen ist nicht vom Himmel gefallen, er ist geistig und kulturell vorbereitet worden. Doch der Zeitgeist ist mit ihnen: Schon die „Revolutionäre“ von 1968 mußten keine Widerstände brechen, sondern „rannten offene Türen ein“ (Frank Böckelmann). Die Grünen antizipieren eine multikulturell-individualistisch-postnationale Zukunft, deren Konturen schon sichtbar sind. Sie können sich als Sieger der Geschichte sehen, ohne ernste Gegenbewegung.
Und die gibt es nicht, weil das bürgerliche Juste milieu von Anbeginn kapitulationsbereit war. Auf die 68er Revolte folgte nicht die Reaktion, sondern unter Führung der CDU kam es zu einer teils verzögerten, teils vorauseilenden Unterwerfung. Es fand eine weltanschauliche Entkernung statt, das Adenauer-Haus hat die Entstehung eines intellektuellen Widerlagers sogar planmäßig sabotiert. Die CDU „schleift auch Gesinnungen, Interessen, Milieus und ‘geistige Konzeptionen’ innerhalb der Partei ab und sieht ihr Ziel in der Geschlossenheit der Organisation, der Beliebigkeit der Inhalte und der Maximierung der Wählerstimmen“ (Caspar von Schrenck-Notzing).
Kernthemen über Jahrzehnte beharrlich verfolgt
Die Grünen hingegen, bei aller Anpassung in der äußeren Verpackung, sind über drei Jahrzehnte hinweg im Kern dieselben geblieben: Atomausstieg und Skepsis gegenüber Großtechnologie; Auflösung von Familien und Geschlechterunterschieden im Zeichen von Feminismus, Emanzipation und Anti-Diskriminierung; Bildungsegalitarismus und Verstaatlichung der Kindererziehung; Forcierung von Einwanderung und Multikulturalismus sowie Bekämpfung des abstammungsbezogenen Volksbegriffs.
Winfried Kretschmann hat nicht unrecht, wenn er seine Designation zum demnächst ersten grünen Ministerpräsidenten der Republik als Frucht des geduldigen Bohrens dicker Bretter bezeichnet. Die Grünen verdanken ihren derzeitigen Höhenflug der Fähigkeit, ihre Kernthemen über Jahrzehnte hinweg beharrlich zu verfolgen und als positiv konnotierte Vision zu präsentieren, bis sie die Mitte der Gesellschaft durchdrungen haben. Der CDU ist dies fremd. Ausgerechnet die Atomenergie, aus ethischen Gründen auch bei Konservativen umstritten, war nun eines der letzten Politikfelder, auf dem die Union noch den Mut hatte, eine Gegenposition zu Rot-Grün durchzuhalten. Aber auch dies wurde jetzt durch den Blitz-Ausstieg hinfällig.
Das bürgerliche Lager verfügt über kein essentielles politisches Projekt mehr. Der Einstieg in eine grundlegende Reform des Steuersystems wurde beerdigt, von einer soliden Finanzpolitik kann keine Rede sein, eine Eingrenzung des sozialen Transferleistungssystems steht nicht mehr auf der Tagesordnung. Selbst in der Schulpolitik, einst Markenzeichen der Union, haben die Christdemokraten den Kampf um das dreigliedrige Schulsystem aufgegeben. Ganz zu schweigen von einer familien- und bevölkerungspolitischen Wende.
Angela Merkel sieht sich durch diese Wahlen nicht widerlegt, sondern bestärkt. Schließlich verlor die CDU scheinbar nach links und nicht nach rechts. Merkel muß bei ihren Volten weder in noch außerhalb der Partei auf nennenswerten Widerstand Rücksicht nehmen. Schon gar nicht bei den bürgerlichen Leitmedien. Diese liefern sogar bereitwillig den intellektuellen Überbau für die Mentalität der Selbstaufgabe. Das Problem liegt also nicht an der CDU allein, es ist die Kapitulation und der Untergang eines ganzen Milieus.
Mit Volldampf in die Beliebigkeit
Das Laissez faire, das ethische Gürtel-Weiterschnallen ist zu einer allgemeinen Grundhaltung geworden. Die Permissivität, für die einst die Grünen mit ihrer Forderung nach Gleichstellung homosexueller Partnerschaften und Abschaffung des Eheprivilegs standen, sie hat Union und FDP längst voll erfaßt. Der grüne Ministerpräsident in spe, Winfried Kretschmann, versammelt als Katholik, verheirateter Vater von drei Kindern und Mitglied eines Schützenvereins indes sämtliche Attribute, die angesichts der verbreiteten Libertinage bei Unions- und FDP-Spitzen schon fast reaktionär anmuten.
Bei der CDU lautet nun die selbstgewisse Devise: Mit Volldampf in die Beliebigkeit. Jeder soll endlich mit jedem koalieren können. Röttgen, Kronprinz der Neo-CDU, will den politischen Luftwiderstand noch weiter senken: „Auch wählersoziologisch ist das Lagerdenken passé, und es entspricht auch nicht der strategischen Interessenlage der CDU.“
Hauptsache Zugriff auf die Macht
Das Rebranding der Union ist also in vollem Gange. Dann eben mit den Grünen. Oder morgen mit der Linken. Alles egal. Hauptsache Zugriff auf die Macht. Das Kippen von Grundsätzen geht der neuen CDU nach dem Ausstieg aus der Atomkraft noch flotter von der Hand. Ballast abwerfen. Endlich kompatibel mit allen sein. Keine lästigen ethischen Bremsen mehr, die einen irgendwo bedrängen.
Existentielle Fragen wie die drohende Kernschmelze der europäischen Einheitswährung, die Inhaftungnahme des deutschen Steuerzahlers durch einen verantwortungslosen Euro-Rettungsschirm und der putschartige, verfassungswidrige Einstieg in eine Transferunion gerieten während der hysterischen Atomdebatte indes völlig aus dem Blick.
Viele Menschen fragten sich, was die Antwort sein wird auf die seit einem halben Jahr andauernde Debatte über Thilo Sarrazins Thesen. Daß jetzt gerade jene Partei reüssiert, die der Perspektive der deutschen Selbstabschaffung am meisten abgewinnen kann, ist eine Pointe. Sie ist nur deshalb wenig überraschend, weil keine der bürgerlichen Parteien den Mut hat, sich Sarrazins Programm nur ansatzweise zu eigen zu machen. Das müssen andere tun.
(JF 14/11)