Als das Europaparlament am 14. Juli zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, waren viele neue Gesichter zu sehen, denn für 367 Abgeordnete ist es die erste Legislaturperiode in Straßburg und Brüssel. Fast 85 Prozent der 736 Parlamentarier (bislang 779) gehören den fünf Fraktionen mit bundesdeutscher Beteiligung an: der Europäischen Volkspartei (EVP/265 Sitze), den Sozialisten und Demokraten (S&D/184), den Liberalen (ALDE/84), den Grünen (FEA/55) oder den Linken (VEL/35). Völlig neu geordnet ist das 113 Abgeordnete starke Lager der EU-kritischen oder rechten Europaparlamentarier: Statt der Union für ein Europa der Nationen (UEN/44) und der Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie (Ind/Dem, 22 Sitze) gibt es nun die Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR/55) sowie die rechte Fraktion Europa der Freiheit und der Demokratie (EFD/31).
Die ECR hatte sich unter der Federführung der Tories – die seit 1992 der EVP-Fraktion angehört hatten – zu einem neuen EU-skeptischen Block zusammengeschlossen (JF 28/09). Die Briten stellen bei dieser von Timothy Kirkhope geführten Fraktion 26 Mitglieder, gefolgt von den 15 der sozialkonservativen polnischen Ex-Regierungspartei PiS der Kaczyński-Brüder sowie den neun Tschechen der ODS von Ex-Premier Mirek Topolánek. Jeweils ein Abgeordneter kommt aus Belgien (LDD), Lettland (TB/LNNK), Litauen (Polenpartei LLRA), den Niederlanden (ChristenUnie/CU) und Ungarn (MDF).
Der lang umstrittene Ausstieg der Tories aus der EVP schmerzt die bisherigen Partner aus CDU/CSU oder ÖVP besonders, denn der ausgewiesene „Antiföderalismus“ der ECR wurde in ihrem „Prager Manifest“ festgeschrieben: Es bestehe die „dringende Notwendigkeit, die EU auf der Basis des Eurorealismus, der Offenheit, der Zuverlässigkeit und der Demokratie zu reformieren“. Die Fraktion gilt als stabil, obwohl es für britische Konservative ziemlich schwer sein dürfte, mit polnischen Erzkatholiken oder sozialen Calvinisten auszukommen. Hinzu kommt ein mögliches Vetopotential der fünf Einzelkämpfer: Verlassen zwei von ihnen die ECR, steht diese vor dem Aus, denn eine EU-Fraktion benötigt mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten.
Konkurrenz bekommt die ECR zudem durch EFD, die sich unter Dominanz der britischen Unabhängigkeitspartei (UKIP) von Ex-IN/DEM-Chef Nigel Farage gebildet hat. Zu den 13 Abgeordneten kommen 8 der 9 Vertreter der rechten norditalienischen Bürgerbewegung Lega Nord sowie je zwei Abgeordnete der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei (DF), der rechtskonservativ-orthodoxen Laos-Partei aus Griechenland und den rechten Liberaldemokraten („Ordnung und Gerechtigkeit“/TT) des litauischen Ex-Premiers Rolandas Paksas. Je ein Vertreter der „Wahren Finnen“ (PS), Frankreich (Libertas/MPF), den Niederlanden (SGP) und der Slowakei (SNS) sichert das Fraktionsquorum.
Die FPÖ, die mit Andreas Mölzer und dem ehemaligen Linzer Vizebürgermeister Franz Obermayr nun zwei Abgeordnete stellt, bleibt – wie 25 weitere Parlamentarier – vorerst fraktionslos. Zunächst standen die Chancen für eine EFD-Mitgliedschaft nicht schlecht, galt doch die Lega als gewichtiger Fürsprecher der Österreicher. Ein Beitritt der Freiheitlichen wurde aber vor allem von der calvinistisch-evangelikalen Kleinstpartei SGP blockiert. Mit der Slowakischen Nationalpartei (SNS) gab es wegen der Beneš-Dekrete unüberbrückbare Gegensätze. Schließlich sprach die UKIP das Machtwort. Deren Pressesprecher beantwortete die Frage, warum man die FPÖ nicht in die EFD aufgenommen hat, mit britischer Nüchternheit: „There was no need.“ Notwendig erschien der neuen Fraktion aber ein gemeinsames Positionspapier, das mit vier Prinzipien auskommt: Freiheit und Zusammenarbeit der Völker, mehr Respekt des Volkswillens der einzelnen Staaten, mehr Respekt vor der Geschichte, der Kultur und den Werten Europas und mehr Respekt vor den nationalen Interessen der Mitgliedstaaten.
Prinzipien, die wohl weitere fraktionslose Parlamentarier unterschrieben hätten. Darunter sind so bekannte Parteien wie der belgische Vlaams Belang (VB) oder Jean-Marie Le Pens Front National (FN). Der niederländische Rechtsliberale und explizite Islamkritiker Geert Wilders, dessen PVV aus den EU-Wahlen sogar als zweitstärkste Kraft (4 Sitze) hervorgegangen war, hatte seinen Sitz demonstrativ nicht angenommen. Auch Hans-Peter Martin, das linksliberale österreichische EU-Enfant-terribble, sowie seine beiden Kollegen bleiben fraktionslos.