Statt befriedet zu werden, weitet sich die Kampfzone am Hindukusch immer weiter aus. Nicht nur in Afghanistan wird die Lage immer instabiler, sondern auch das Nachbarland Pakistan, das Atomwaffen besitzt, wird zunehmend zum Kriegsgebiet. Mit der dramatischen Häufung von Kleinkriegsaktionen, Anschlägen und Überfällen bewiesen die pakistanischen Taliban in den letzten Monaten ihre zunehmende Gefährlichkeit. Als vor zwei Wochen Taliban-Kämpfer in einer spektakulären Aktion sogar in das Hauptquartier der pakistanischen Armee in Rawalpindi eindringen und Geiseln nehmen konnten, blieb dem als Zauderer verschrienen Asif Ali Zardari nur die Flucht nach vorn. „Die Taliban haben weite Teile des Landes bereits unter ihrer Kontrolle. Wir wissen, daß sie immer gefährlicher werden und daß sie den Staat übernehmen wollen. Wir kämpfen jetzt um das Überleben von Pakistan“, erklärte der Präsident.
Vergangenes Wochenende hat die Armee dann tatsächlich eine Großoffensive gegen die Taliban in Süd-Waziristan begonnen. Schwere Luftangriffe waren der Auftakt für das Vorrücken von zwei Divisionen mit 28.000 Soldaten unter massivem Einsatz von Artillerie. Die Region galt bisher als sicheres Reduit für Taliban-Kämpfer und für von ihnen geduldete al-Qaida-Terroristen. Die pakistanischen Divisionen stoßen bei ihrer Offensive auf hartnäckigen Widerstand, denn die Taliban wollen das Gebiet „bis zum letzten Blutstropfen verteidigen“.
Der Einsatz werde mindestens sechs bis acht Wochen dauern, heißt es von seiten des Militärs. Ex-General Talat Masud rechnet mit einem deutlich längeren Krieg: „Die Armee wird die Taliban dort angreifen, wo die Stämme leben. Sie sind sehr aggressiv und bestens vertraut mit der Guerilla-Kriegführung. Die betreiben sie ja schon seit Jahrhunderten. Aber es gab keine andere Option. Die Armee mußte diese große Offensive beginnen, um die Hoheit des Staates wiederherzustellen.“
Wo hört Pakistan auf, und wo fängt Afghanistan an?
Dem Land stehe der intensivste innere Kampf aller Zeiten bevor, sagt auch der pakistanische Politik-Analyst Azmat Abbas. Er warnt davor, daß das unwegsame, bergige Süd-Wasiristan an der Grenze zu Afghanistan, wo Tausende Höhlen beste Verstecke bieten, seit Jahren zum zentralen Rückzugsgebiet der Taliban ausgebaut worden ist. 10.000 bis 12.000 Kämpfer sollen sich dort aufhalten, der pakistanische Staat hat in diesem „Stammesgebiet“ kaum Einfluß. Den Taliban spielt in die Hände, daß die Hunderte Kilometer lange Grenze zum Nachbarland unkontrollierbar ist. Oft läßt sich schwer ausmachen, wo Pakistan aufhört und Afghanistan anfängt. Die Furcht mag übertrieben sein, daß das Land in den Abgrund eines totalen Bürgerkrieges stürzt oder die staatlichen Institutionen unter den Schlägen der militanten Islamisten ganz zusammenbrechen könnten. Aber das jüngste Geschehen gibt wenig Anlaß zu der Zuversicht, daß der Staat die Sache in absehbarer Zeit in den Griff bekommt. Selbst tief im Herzland Pakistans, im Süden des Pandschab, beginnen die Extremisten inzwischen mit Attacken.
Zumindest aus der Distanz sieht es so aus, daß die staatliche Macht im instabilen Vielvölkerstaat Pakistan in atemberaubendem Tempo ausgehöhlt wird. Seit Jahren ist zu beobachten, wie nicht nur die radikalen Islamisten, die in Armee und Geheimdienst auf weitverbreitete Sympathien treffen, immer stärker werden, sondern das ganze Land auseinanderdriftet. Die Belutschen im Westen wollen unabhängig werden, die Menschen in Karatschi stammen meist aus Bombay und sind mit Islamabad unzufrieden. Teile des Pandschab möchten eigentlich mit Indien wiedervereinigt werden. Der frühere Präsident und Militärdiktator Pervez Musharraf hatte mit der Armee die zentrifugalen Kräfte des Landes bändigen können – bis er sich nach dem 11. September 2001 auf die Seite der USA stellte und damit auch noch den Zorn islamistischer Extremisten auf sich zog.
Sie vor allem sind die aktuelle existentielle Bedrohung für den brüchigen Staat. Die Politik Zardaris ließ viel Schwäche und Konzeptionslosigkeit erkennen. Noch im Frühjahr überließ er den unberechenbaren Taliban-Radikalen ganze Regionen (JF 10/09). Wie ihre Gesinnungsgenossen in Afghanistan sind auch die pakistanischen Taliban ein undurchschaubares und unberechenbares Konglomerat aus vormodernen islamistischen Fanatikern, feudalistischen Stammesführern und paschtunischen Nationalisten, zu deren Zielen auch die Vereinigung mit ihren Volksgenossen in Afghanistan gehört.
„Die Atomanlagen Pakistans sind in sicheren Händen“
Ein Horrorszenario baut sich auf: Ein instabiles, aber strategisch wichtiges Land, das Atomwaffen besitzt, könnte von seinem inneren Feind – Fundamentalisten, Terroristen, Verächtern des Westens auf jeden Fall – übernommen werden oder zerbrechen. Der Alptraum: Sie könnten dann über ein Nukleararsenal verfügen, mit dem sie dem Westen Bedingungen diktieren könnten. Die Möglichkeit, daß Atomwaffen in die Hände von Taliban geduldeter Terroristen gelangen könnten, wäre für Washington das größte denkbare Fiasko. Man hatte Islamabad deswegen schon lange vehement zum Handeln gedrängt und noch mehr Geld bereitgestellt. „Die Atomanlagen Pakistans sind in sicheren Händen“, versichert Zardari. Das Kontrollsystem sei umfassend und funktioniere. Über wie viele Atomsprengköpfe Pakistan verfügt, ist Staatsgeheimnis.
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) geht von 30 bis 40 Stück aus, andere Quellen nennen 100 bis 200 Stück. Ein Kontrollgremium mit 15 Mitgliedern, die National Command Authority, überwacht das Arsenal. Nach Angaben der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) werden die Komponenten für die Atombomben an mindestens sechs verschiedenen Orten im Land aufbewahrt, verteilt über mehrere Provinzen. Zudem bewachten mehrere tausend Soldaten die Arsenale. Ein kurzfristiger Einsatz sei „unter gar keinen Umständen“ möglich. Zudem müsse für den Zugang zu den Komponenten ein Code von zwei Personen eingegeben werden.
Pakistanische Experten sehen die Sicherheit nuancierter. Die Nuklearwaffen seien „extrem gut gesichert“, meint etwa der Politikberater Imtiaz Gul, und die Taliban seien weit davon entfernt, die Kontrolle über sie erlangen zu können. Der Physiker und Nuklearexperte Pervez Hoodbhoy hingegen ist mißtrauisch: „Wir können nur hoffen, daß die Leute, auf die es ankommt, loyal sind, wir wissen es aber nicht genau.“