Zuerst vier Nachrichten vom politischen Nachwuchs des bürgerlichen Lagers: In Brandenburg wird der 38jährigen Nachwuchshoffnung der Landes-CDU, Sven Petke, vorgeworfen, die E-Post hochrangiger Parteimitglieder, darunter Minister, überwacht zu haben. Information ist alles, muß er sich gedacht haben, geht es doch um die Nachfolge von CDU-Landeschef Jörg Schönbohm. Mittlerweile mußte Petke als Haupt eines Netzwerks von Nachwuchspolitikern („Junge Garde“ genannt), das in den Parteigremien über gut ausgebaute Stellungen verfügt, von seinem Amt zurücktreten. Sogleich kündigte er aber an, er wolle sich um die Nachfolge des CDU-Landesvorsitzenden Jörg Schönbohm bewerben. In Berlin mußte sich vor einigen Monaten die Nachwuchshoffnung Mario Czaja aus dem engeren Wahlkampfteam verabschieden. Der 30jährige hatte sich in seiner Abgeordneten-Vita als diplomierter Wirtschaftswissenschaftler vorgestellt. Sein Zertifikat stammte von einer Schweizer Briefkastenuniversität. Czaja, Mitglied des Wissenschaftsausschusses im Abgeordnetenhaus, hat nicht einmal das Abitur. Er entschuldig-te sich damit, daß er in seinen „stürmischen Jugendjahren“ dafür „keine Zeit“ gehabt hätte. Das trifft absolut zu, denn schon als Schüler hatte er intensiv an einer politischen Karriere gebastelt. Als 24jähriger gelang ihm der Sprung ins Landesparlament. Bei der Abgeordnetenhauswahl vor zwei Wochen gewann er als einziger CDU-Politiker im Osten Berlins ein Direktmandat. Sein acht Jahre jüngerer Bruder Sebastian bekleidete bereits mit 14 einen Führungsposten beim Unionsnachwuchs. Mit 20 wurde er, inzwischen Bezirksverordneter, stadtweit bekannt durch die Affäre mit einem zur „Miss Ostdeutschland“ gekürten Nacktmodell. Als das für einen Karriereschub nicht ausreichte, trat er von der CDU zur FDP über und sitzt nun ebenfalls im Abgeordentenhaus. Von Berlin nach Thüringen. Vor einigen Monaten widmete die Zeit sich dem Thema „Bürgerlichkeit“. Gleich hinter Wolf Jobst Siedler, in der Rubrik „Berufsbürger“, wurde der 34jährige CDU-Generalsekretär von Thüringen, Mike Mohring, vorgestellt. Er sei „kein Karrierist, obwohl er Karriere gemacht hat; sein Anzug ist ihm auf sympathische Weise etwas zu groß“. Ein Blick auf den Internet-Auftritt des sympathischen Nicht-Karrieristen verrät, daß Mohring schon seit dem 17. Lebensjahr in der Politik steckt, mit 18 Kreistagsabgeordneter, dann JU-Chef wurde, mit 27 in den Landtag kam. Seine Berufsbiographie weist Stipendien, Volontariate, Praktika auf, nur vom Abschluß eines Studiums oder einer Berufsausbildung ist keine Rede. Ein berufsloser Berufspolitiker, der sich dafür Ehrenvorsitzender der Jungen Union Thüringens nennen darf. Solch unglaublicher Byzantinismus deutet darauf hin, daß er das Haupt einer Seilschaft ist, der er seine steile Karriere verdankt und die sich ihrerseits noch viel von ihm erhofft. Zurück nach Berlin, auf die Bundesebene der SPD. Der Juso-Vorsitzende Björn Böhning, 28, Diplom-Politologe, ist schon mit 16 in die SPD eingetreten. Nach den Bundestagswahlen 2005 forderte er für seine Vor-Vorgängerin Andrea Nahles lautstark eine einflußreichere Position. Die hat sie bekommen, und gewiß wird sie sich bei den nächsten Bundestagswahlen mit einem sicheren Listenplatz für Böhning bedanken. Aber was qualifiziert Böhning? Neulich sah man ihn im Streitgespräch mit Klaus von Donanyi. Böhning redete flüssig, locker, professionell über Wirtschaft und Soziales – ein fertiger Politiker. Doch der unerschütterlich freundliche Donanyi wies ihm nach, daß er von wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenhängen keine Ahnung hat. Aber was nützt das den Zuschauern? Sie müssen realisieren, daß sie als Wahlbürger nichts, aber auch gar nichts dagegen tun können, daß der junge Mann in drei Jahren als ihr „Volksvertreter“ in den Bundestag einzieht. Eine einseitige, boshafte Auswahl, zugegeben, aber keine willkürliche oder zufällige. Ein Strukturprinzip bei der Nachrekrutierung der politischen Klasse wird hier sichtbar. Die Karrieren weisen drei wesentliche Merkmale auf: Er-stens die frühe Orientierung auf den Politikerberuf. Bereits in der Schulzeit wird planvoll der Grundstein für den Aufstieg gelegt, werden Seilschaften geknüpft, Parteigremien besetzt, Techniken des Machterwerbs erlernt. Anders, scheint es, sind hohe Positionen in der Politik gar nicht mehr zu erlangen. Dabei werden taktische Fähigkeiten erworben, doch keine Sachkompetenz, Bildung oder Fähigkeiten, in Zusammenhängen und über den Tag hinaus zu denken. Dafür hat man – sie-he oben – gar „keine Zeit“. Ein Politikertyp wird herangezüchtet, der auf jede Frage blitzschnell eine Antwort parat hat, ohne etwas Substantielles zu wissen. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach von Generalisten mit einem Spezialwissen zur Bekämpfung politischer Konkurrenten. Kompetente Seiteneinsteiger haben keine Chance. Der im Wahlkampf 2005 von Angela Merkel nominierte Steuerexperte Paul Kirchhof wurde von den Berufspolitikern parteiübergreifend als Gefahr für den Berufsstand identifiziert und auf einer Ebene („Professor aus Heidelberg“) attackiert, auf die Kirchhof schon aus Gründen der Selbstachtung nicht herabsteigen konnte. Politische Klasse und Wählermassen teilen die kultur- und bildungsfeindlichen Instinkte. Die frühe Fokussierung auf den Politikbetrieb führt neben der intellektuellen auch zur sozialen Verarmung und zur Begrenzung des Erfahrungshorizonts. Daraus ergibt sich, zweitens, der hermetische Charakter dieses Milieus. Man beginnt, die virtuelle Welt der Gremien, Kungelrunden, des medialen Blitzlichts für die Wirklichkeit zu halten. Erheiternd, vor allem aber erschütternd die Bekundung der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Lilo Friedrich: Bis 2005 habe sie geglaubt, wer wirklich arbeiten wolle, der finde auch eine Stelle, und deshalb habe sie aus Überzeugung für die Hartz-Gesetze gestimmt. Erst nach ihrem unfreiwilligen Ausscheiden aus dem Parlament, als sie selber Arbeit suchte, wurde sie eines Besseren belehrt. Und Lilo Friedrich ist nicht einmal eine typische Berufspolitikerin. Als Mutter von sechs Kindern kennt sie ein Leben vor, außerhalb und nach der Politik Sie hat sich als Putzfrau selbständig gemacht. Wer aber bereits von Jugend an vollständig in der virtuellen Politikwelt sozialisiert ist, für den wird sie alternativlos. Oft wird darauf verwiesen, daß die deutschen Politiker eher schlecht bezahlt werden, doch wer den Qualifikations- und Ausbildungsstand mancher Vertreter betrachtet, wird finden, daß sie dafür geradezu fürstlich entlohnt werden. Im Grunde wissen sie selbst, daß sie ihre Einkommen, Pensionsansprüche und ihr Prestige an anderer Stelle niemals erlangen könnten. Niemand erwartet uneigennützige Heilige in der Politik, doch die existentielle Abhängigkeit gerade des Nachwuchses von Posten und Mandat führt zur Gefahr, daß politische Entscheidungen danach getroffen werden, inwieweit sie den sozialen Selbsterhalt der politischen Akteure sichern. In seinem gleichnamigen Buch spricht Hans Apel bereits von der „deformierten Demokratie“. Die innerparteiliche Demokratie sei eine „Fata Morgana“, die Anpassung an die Übermacht des Apparats und Fraktionsvorstandes die Regel. Eine noch größere Fata Morgana wäre allerdings ein Parlamentarismus ohne Ordnungsstrukturen. Gegen die Ordnungsfunktion des Vorstandes ist so lange nichts zu sagen, wie sich in ihm Überblick und Kompetenz konzentrieren. Wirklich schlimm wird es dann, wenn sich das Eigeninteresse der politischen Klasse in den Führungsgremien verdichtet und kompetente Außenseiter nur noch als Konkurrenten am Futtertrog weggebissen werden. Eine Ordnungsstruktur sind auch die Parteien. Schon Max Weber sah in ihnen keinen demokratischen Idealfall, sondern notwendige, „auf freie, notwendig stets erneute Werbung ausgehende Organisationen, im Gegensatz zu allen gesetzlich oder kontraktlich fest umgrenzten Körperschaften“. Sie bilden das Gegengewicht und die Kontrollinstanz gegenüber der Beamtenschaft und Bürokratie, die mit ihrem Fachwissen gleichfalls unverzichtbar sind. Würden berufliche oder körperschaftliche Organisationen ihren Part übernehmen, würden Geschäftsleute an die Spitze der Politik treten, die ihre wirtschaftlichen Interessen, aber keine staatspolitische Gesamtverantwortung formulieren könnten. Obwohl Weber das halbparlamentarische Kaiserreich vor Augen hatte und nicht ahnen konnte, zu welchen bizarren Wucherungen eine Parteiendemokratie fähig sein würde, regten sich bei ihm schon Zweifel am Politikerstand. „Der Berufspolitiker kann ein Mann sein, der lediglich von der Politik und ihrem Getriebe, ihren Einflüssen und Chancen lebt. Oder ein solcher, der für die Politik lebt. Nur im letzteren Fall kann er ein Politiker großen Zuschnitts werden.“ Und im andern Fall? Begreift er den „Staat als Beute“! Parteipolitiker bilden heute nicht mehr das Gegengewicht zur Staatsbürokratie, sondern sie streben danach, mit ihr zu verschmelzen, staatlich abgesicherte „Parteibeamte“ zu werden mit dem faktischen Anspruch auf Unkündbarkeit. Der Verwaltungsrechtler Hans-Herbert von Arnim schreibt: „Das Zusammenwirken der Berufspolitiker bei der Sicherung ihrer übereinstimmenden Interessen (und daraus resultierende politische Kartellierungstendenzen) sind das zentrale Phänomen, das eine moderne Richtung der Politikwissenschaft heute unter dem Begriff ‚politische Klasse‘ thematisiert (…).“ Wer seine Prioritäten anders setzt, ist im Machtgerangel automatisch unterlegen. Eine Spirale der Negativauslese beginnt sich zu drehen. Das ist kein neues und kein ausschließlich deutsches Problem. Ein jugoslawischer Parteienkritiker sah dieses System schon vor Jahrzehnten in der Dekadenzphase angekommen. In staatliche Führungspositionen sei eine „Masse ideologisch desinteressierter Leute“ vorgedrungen, „die ihre Ideen von oben geliefert bekamen, die aber mit dem ganzen Herzen und in vollster Einmütigkeit dabei waren, ein System zu verteidigen, das ihnen unantastbare Privilegien garantierte“. Diese Leute bildeten „eine neue Klasse, der die großen Ideale gleichgültig waren und die nur für die Bequemlichkeit des Lebens Interesse hatte“. Die „heroische Ära“ dieser Gesellschaftsformation sei vorüber, die „Epoche ihrer großen Führer ist zu Ende. Nun hat die Epoche der Männer der Praxis begonnen. Die neue Klasse ist geschaffen. Sie ist auf der Höhe ihrer Macht und ihres Reichtums, aber sie hat keine neuen Ideen. Das einzige, was ihr zu tun bleibt, ist sich selbst zu rechtfertigen.“ An Reform oder Umkehr zu denken, käme für sie der Selbstabschaffung gleich, denn: „Die neue Klasse profitierte von dem neuen Eigentum, das sie sich selbst zugelegt hatte, selbst wenn die Nation als Ganzes dabei verlor. (…) Karrieresucht, Extravaganz und Machtlüsternheit sind unvermeidlich und Korruption genauso … Es handelt sich um eine besondere Art der Korruption, die der Tatsache entspringt, daß die Regierung in den Händen einer einzigen politischen Gruppe liegt und die Quelle aller Vorteile ist. Es läßt sich nicht umgehen, für die eigenen ‚verdienten‘ Leute zu sorgen, sie mit Posten zu versehen oder Privilegien aller Art zu verteilen. Die Tatsache, daß die Regierung und die Partei(en) mit dem Staat identisch sind (…), hat zur Folge, daß der (…) Staat sich selbst korrumpiert, denn er muß ja ständig Vorrechte und parasitäre Funktionen schaffen.“ Die Sätze stammen aus dem Buch „Die Neue Klasse“ (1954), der Verfasser ist der jugoslawische Altkommunist und Dissident Milovan Djilas. Seine Kritik bezog sich zwar nicht auf die parlamentarische Demokratie, sondern auf den Sozialismus unter Stalin, aber das kann heute weder Trost noch Ausrede sein. Foto: CDU-Nachwuchspolitiker Mario Czaja (Berlin), Sven Petke (Brandenburg), Mike Mohring (Thüringen)
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